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Walt Whitman in Weimar

Song of Myself – buchkünstlerische Positionen 1923 und 2023
Ausstellung in der Universitätsbibliothek vom 27.10. bis 14.12.2023

Beitrag von Dr. Moritz Lampe, Universitätsbibliothek an der Bauhaus-Universität Weimar

Der Gedichtzyklus »Song of Myself« des US-amerikanischen Dichters, Journalisten und Verlegers Walt Whitman (1819–1888) zählt zu den Schlüsseltexten der Literatur des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1855 zusammen mit weiteren Gedichten Whitmans unter dem Titel »Leaves of Grass« erstmals veröffentlicht, wurde der Text immer wieder überarbeitet und erschien in zahlreichen originalsprachlichen Fassungen und in Übersetzungen.

In der Bibliothek der Bauhaus-Universität Weimar wurde diesem wegweisenden Gedichtzyklus nun eine eindrucksvolle Ausstellung gewidmet, die Whitmans poetische Sprache anhand von aufwändig gestalteten Buchobjekten sichtbar werden lässt. Grundlage der Ausstellung bildet ein glücklicher Überlieferungszufall der Geschichte. Unbeschnittene Druckbögen einer englischsprachigen »Song of Myself«-Ausgabe, die 1923 im Weimarer Utopia-Verlag erschien, haben sich zunächst in der Werkstatt des Buchbindemeisters Otto Dorfner (1885–1955) am Bauhaus Weimar und dann an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle (Saale) erhalten. Nach einem hundertjährigen Zwischenzustand konnte diesen historischen Zeugnissen jetzt neues Leben eingehaucht werden: Im Sommersemester 2023 erhielten Studierende der Klasse Buchkunst von Prof. Sabine Golde, Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle (Saale), die Möglichkeit diesem bedeutenden Fund mit heutigem Blick eine neue Gestalt zu geben.

Die in der Universitätsbibliothek präsentieren Buchobjekte zeigen dabei die ganze Bandbreite der technischen und künstlerischen Weiterentwicklung, die das Medium Buch in den vergangenen hundert Jahren erfahren hat. In Auseinandersetzung mit den historischen Druckbögen entstanden so zeitgenössische Interpretationen des originalen Satzbildes, die mit asymmetrischer Textanordnung, der Verwendung von Acrylglas oder den Möglichkeiten des modernen Digitalsatzes experimentieren. Besonders hervorzuheben sind die Werke von Friederike Dolinschek und Rosa Tuchel, die anlässlich der Ausstellungseröffnung am 27.10.2023 durch einen von Christa und Onno Feenders gestifteten Preis prämiert wurden. Während Rosa Tuchel ihrer Bindung der Druckbögen durch die Verwendung von Walnussöl und Grassaft eine olfaktorische Komponente verleiht, die auf Whitmans Werktitel verweist, macht Friederike Dolinschek mit ihrem Künstlerinnenbuch auf die intensive Textarbeit Whitmans aufmerksam. Indem sie den Ursprungstext von Whitmans erster Fassung durch den Einsatz von Korrekturzeichen wieder lesbar macht, wird neben dem prozesshaften Charakter von Whitmans Arbeitsweise auch die Arbeit von Lektoren und Setzern wieder sichtbar.

Diese modernen Bindungen der historischen Druckbögen werden in der Ausstellung durch eine großzügige Leihgabe des Deutschen Buch- und Schriftmuseums Leipzig ergänzt. Dabei handelt es sich um eine der wenigen »Song of Myself«-Bindungen, die 1923 noch in Weimar angefertigt wurden. Als Urheberin dieses kunstvollen Handeinbands in grünem Bast konnte Anny Wottitz (1900–1945) identifiziert werden, die 1919 im Gefolge von Johannes Itten an das Bauhaus in Weimar kam. Hier leitete sie in der Nachfolge Dorfners in der Zeit von September 1922 bis Mai 1923 die Buchbindewerkstatt, bevor sie 1939 als Jüdin vor den Nationalsozialisten fliehen musste und nach Palästina emigrierte, wo sie kurze Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs starb. Neben dem in der Ausstellung gezeigten Exemplar sind nur zwei weitere Whitman-Ausgaben mit ihrem Einband in Deutschland bekannt, die heute im Bauhaus-Archiv Berlin und in der Bibliothek des Jüdischen Museums Berlin verwahrt werden.

Anhand der Ausstellung in Weimar lassen sich daher nicht nur die Rezeptionsgeschichte Whitmans, sondern auch die unterschiedlichen buchkünstlerischen Positionen der Jahre 1923 und 2023 im unmittelbaren Vergleich miteinander nachvollziehen.

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