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‚Sodoms Ende‘: Die skandalisierende Wirkung von Karikaturen im Rahmen des Eulenburg-Skandals (1906/7)
Homosexualität im Deutschen Kaiserreich
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Thema Homosexualität im Deutschen Kaiserreich Tabu. Abgesehen von der im ausgehenden 19. Jahrhundert aufgekommenen Homosexualitätsforschung und einigen Skandalen[1] wurde in der deutschen Öffentlichkeit selten bis gar nicht über gleichgeschlechtliche Sexualität diskutiert. Solche ‚unmoralischen‘ Praktiken wurden seit dem späten 19. Jahrhundert aus hauptsächlich christlichen und sittlichen Gründen bekämpft, unter anderem Homosexualität.[2] Im politischen Diskurs wurde diese nämlich als Gefährdung des Friedens und als Zeichen von (aristokratischer) Dekadenz dargestellt.[3] Dies gipfelte 1871 mit der reichsweiten Kriminalisierung von –wohlgemerkt nur männlicher– Homosexualität.[4] In diesem Rahmen waren sogar Andeutungen auf oder Darstellungen von homosexuellen Akten oder Personen medial verboten, da sie „das Schamgefühl der Öffentlichkeit in sexueller Hinsicht“ verletzten.[5]
Erst im Rahmen der sogenannten Harden-Eulenburg-Affäre –und darüber besteht Konsens in der Forschung– würde die Thematik Homosexualität in den Bereich des Sagbaren gerückt. Grund dafür waren nicht nur die Enthüllungen Maximilian Hardens über Homosexuelle im Freundeskreise Kaiser Wilhelms II. selbst, sondern auch die Mediatisierung der darauffolgenden Gerichtsprozesse. Während Katholiken und Konservative gleichgeschlechtliche Sexualität als abnorm und krankhaft ansahen, war die Sozialdemokratie in dieser Hinsicht gespalten: Einerseits herrschte die Meinung, Homosexualität sei eine Krankheit, für die die Kranken selbst nicht verantwortlich gemacht werden sollten; andererseits die Ansicht, dass das Verhalten der (homosexuellen) Aristokraten Ausdruck von sittlichem Verfall sei.[6] Mit dieser in der Presse ausgetragenen Auseinandersetzung über die Moralität von Homosexualität ging eine andere Diskussion einher, nämlich über geschlechtsspezifische Kategorisierungen, Männlichkeit und deren Zusammenhang mit dem ‚Nationalcharakter‘. Demnach definierten unterschiedliche Grade von Männlichkeit den politischen Charakter eines Nationalstaates.[7]
Besagte Diskursverschiebung und die darauffolgende Auseinandersetzung mit sexualitätsbezogenen Themen fanden nicht nur im Rahmen von parteipolitischen Diskussionen in Tages- und Wochenzeitungen ihren Ausdruck. Unzählige Satirezeitschriften und Karikaturisten nahmen den Skandal zum Anlass, männliche Homosexualität zu humoristischen Zwecken darzustellen und somit teilweise ebenfalls zum Politikum werden zu lassen. Anhand des Titelblatts der 547. Ausgabe der sozialdemokratischen Satirezeitschrift Der Wahre Jacob[8] wird im Folgenden der Frage nachgegangen, inwiefern Karikaturen zur Skandalisierung ihrer Rezipienten beitragen können.
‚Sodoms Ende‘
Skandale und Karikaturen haben in ihrer gesellschaftlichen Funktion etwas gemein: Skandalöse Ereignisse zeigen zum einen auf, welche Praktiken akzeptabel sind und welche Normen in einer bestimmten Gesellschaft herrschen.[9] Satire als Kunstform, in diesem Fall als Karikatur, gibt zum anderen durch ihre Spontanität Auskunft über die augenblickliche gesellschaftliche Reaktion und Verarbeitung skandalöser Ereignisse.[10] James Steakley hat in einer Studie über die Karikaturen rund um die Eulenburg-Affäre die immer wiederkehrenden Thematiken der Zeichnungen herausgearbeitet; unter anderem „die sich in der Aristokratie ausbreitende Dekadenz“ und „die Unterminierung der kodifizierten Geschlechterrollen“ sowie die Angst vor einem Niedergang der Sitten und Werte.[11] Diese Befürchtungen sehen sich in der hier zu behandelten Karikatur widergespiegelt, zusammen mit einer sehr plastischen und tabubrechenden Darstellung homosexueller Akten.
Die betreffende Karikatur erschien am 9. Juli 1907 im Wahren Jacob, einer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nahestehenden Satirezeitschrift, dessen Zielgruppe die Arbeiterinnenklasse war.[12] Karikaturisten widmeten sich in dieser Zeit der Aufgabe, auf übertriebene und groteske Weise sowohl die politischen als auch die erotischen Aspekte des Skandals in Zeichnungen darzustellen.[13] Obwohl –oder möglicherweise weil– diese Zeichnung auf dem Titelblatt jenes Heftes abgedruckt wurde, ist an keiner Stelle die Signatur des Künstlers zu finden. Der vermeintliche Wunsch des Zeichners, seine Anonymität zu wahren, ließe sich mit einem Blick auf den gewagten Inhalt der Karikatur rasch erklären. Denn hier handelt es sich nicht um ein übliches Spottbild eines beliebigen Politikers, sondern um eine sehr plastische und eklatante Veranschaulichung der vorgeblichen homosexuellen Praktiken des engsten Freundeskreises Wilhelms II.[14] Die eigensetzte Symbolik und Anspielungen auf Identitäten der Dargestellten deuten darauf hin, dass der Urheber ein gewisses Vorwissen vorausgesetzt hat. Alle von Harden verfasste Presseartikel, die vermeintliche Homosexualität in der Kaiser-Kamarilla enthüllten, waren immerhin bereits veröffentlicht worden und die Gerichtsberichterstattung befand sich in vollem Gange.
Die gesamte Karikatur soll sowohl durch den Zeichnungsstil als auch durch die Kleidung der darin dargestellten Figuren an das Alte Rom und dessen Dekadenz erinnern. An den oberen Ecken sind jeweils zwei sich liebkosende Paare zu sehen, die ebenjene Dekadenz und Perversität zum Ausdruck bringen sollen. Der alte Mann und der junge Knabe oben links stehen für das, was ehemals als ‚Päderastie‘ bekannt war: nämlich die homosexuellen Akte zwischen Männern und Jungen. Die Darstellung der Paarung zwischen der Frau und dem Stier soll zudem den Aspekt der Verkehrung ins ‚Abnorme‘ bestärken und eine Anspielung auf den Mythos ‚Europa und Zeus‘ sein. Zwischen den Paaren und mit dem Rücken zum Betrachter thront ein Adler, der womöglich das Deutsche Kaiserreich und dessen jene perversen Umstände missbilligende Bevölkerung symbolisiert. Denn unterhalb des Greifvogels spielt sich eine skandalöse Szene ab, deren Protagonisten hochrangige preußische Machthaber sind.
Der hochrangigste der hier dargestellten Persönlichkeiten ist gewiss der preußische Monarch. Mangels Alternativen lassen sowohl das auf seinem Rock aufgedruckte „M.“ und der Schnurrbart darauf schließen, dass es sich um Seine Majestät handeln muss. Links im Bild steht er als wissender Beobachter da, diese Tätigkeit deutlich durch das Tragen eines Monokels und seinen auf das Geschehen in der Mitte gerichteten Blick. Ein klarer Gesichtsausdruck ist nicht ausreichend erkennbar; der halboffene Mund könnte auf Überraschung oder Entsetzen hindeuten. So wird die Frage aufgegriffen und zugleich unmittelbar beantwortet, ob der Kaiser denn wirklich keine Kenntnis von den Exzessen seines engsten Kreises hatte. Darüber hatte die deutsche Bevölkerung eine scharfe Debatte geführt und in der Folge wurden sogar die Regierungsfähigkeit und Autorität des Kaisers hinterfragt.[15] Die hohen Schuhe, die der karikierte Kaiser trägt und Effemination bedeuten, könnten ebenfalls auf Kenntnis, wenn nicht gar auf Komplizenschaft, verweisen.
Hohe Schuhe werden auch von der mittigen Figur getragen. Weil sie mit dem Rücken zum Beobachter und gebückt dargestellt wurde, ist kein Gesicht zu sehen. Dank der Beschriftung auf dem Kleid kann man sich die Identität herleiten: Es handelt sich um „den Süßen“, wie Kuno Graf von Moltke von seinen engsten Freunden genannt wurde. Einer dieser engen Freunde war der ebenso abgebildete Philipp Fürst zu Eulenburg. Durch die Harfe in der rechten Hand und die Beschriftung auf seiner Bekleidung lässt sich der Fürst ebenfalls leicht identifizieren, denn dieser war leidenschaftlicher Harfenspieler, wie ihn der Journalist Harden spöttisch in seinen Enthüllungen beschrieb.[16] Vor dem bereits erläuterten Hintergrund der Zensur und der Tabuisierung von homosexuellen Inhalten bestätigt sich die These einer skandalisierenden Karikatur, wenn man einen Blick auf die zentrale Handlung wirft. Der Fürst zu Eulenburg wird durch den Grafen von Moltke oral befriedigt, und der ‚Harfner‘ zeigt sich in seiner rezeptiven Rolle davon bestürzt und zugleich erregt. Insgesamt wird Eulenburg als der ‚männlichste‘ aller Beteiligten dargestellt. Der homosexuelle Akt lässt ihn nicht nur verblüfft wirken, seine Bekleidung lässt ebenfalls darauf hindeuten: Der Zeichner lässt ihn keine hohen Schuhe tragen wie die anderen Figuren, sondern Sandalen im Stil römischer Soldaten.
Viel verweiblichter ist jedoch die Darstellung des Grafen von Moltke. ‚Der Süße‘ nimmt nicht nur die aktive Rolle bei der Befriedigung Eulenburgs ein, sondern anderweitig auch eine rezeptive Position. Dies geschieht jedoch durch eine Person im Verborgenen, die mittels einer Armbrust einen Pfeil in den Hintern des ‚Süßen‘ abschießt. Auf der Waffe ist „Die Zukunft“ zu lesen: eine Referenz auf den Angriff, den die von Harden herausgegebene Zeitung für die Freunde des Kaisers bedeutete. Denn aus dem Gesäß Moltkes tritt eine Art Rauchwolke heraus, die bis an den oben thronenden Adler hinaufsteigt. Dies lässt sich so interpretieren, dass die die Kaiser-Freunde betreffenden Veröffentlichungen durchaus Auswirkungen auf das Deutsche Kaiserreich –verkörpert durch den Adler– und dessen Bevölkerung hatten. Ein solcher Einfluss kann vor dem Hintergrund der von der Presse hergestellten Verbindung zwischen dem Skandal und der damals als ‚weich‘ interpretierten deutschen Außenpolitik auf der europäischen Bühne interpretiert werden.
Die politische Bedeutung der Berichterstattung Hardens wird an der Bildunterschrift erneut deutlich: „Tells Geschoß war es gerade nicht, aber es hat getroffen“. Dabei handelt es sich um eine Anspielung auf Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ und höchstwahrscheinlich auch um einen Vergleich zwischen der Hauptfigur und dem Herausgeber der Zukunft. „[…] sicher ist die Unschuld vor Dir / Du wirst dem Lande nicht mehr schaden“ sagt der Schweizer Held, nachdem er den machtgierigen Vogt Gessler mit seinem Pfeil trifft.[17] Der Journalist Harden hatte nämlich laut eigener Aussage kein Interesse daran, Homosexualität zu denunzieren oder Hass auf Homosexuelle zu säen. Er wurde vielmehr von seiner Ambition getrieben, gegen eine bestimmte politische Konstellation vorzugehen, die ein Übermaß an Einfluss auf den Kaiser ausgeübt hatte.[18] Dies könnte des Weiteren darauf hindeuten, dass die (politischen) Motive hinter den Enthüllungen Hardens zumindest einem Teil der Öffentlichkeit bereits bekannt waren.
Fazit: Skandalisierende Satire
Nichtsdestotrotz bleibt in dieser Hinsicht festzuhalten, dass der Aspekt der Homosexualität –vermutlich entgegen den Vorstellungen Hardens– im Großteil der Berichterstattung zur Eulenburg-Affäre hervorgehoben wurde und der Skandal durchaus eine Diskursverschiebung in Sachen Homosexualität bedeutete, zum Besseren oder zum Schlechteren. Da gleichgeschlechtliche Sexualität nun in aller Munde zu sein schien, wurden solche Praktiken von Satirikern in Karikaturen eingesetzt, um die Beteiligten zu verspotten oder, im Falle der hier analysierten Zeichnung, um selbst die Leserschaft zu skandalisieren. Während andere Karikaturen durchaus Homosexualität zum Thema machten, fokussierten sie jedoch auf deren Spott und blieben dabei relativ harmlos. Das Titelblatt der 547. Ausgabe des Wahren Jacob ragt hingegen aufgrund seiner Explizitheit und provokativen Inhalte heraus. Hierin wurden sexuelle Praktiken in aller Deutlichkeit präsentiert und es lässt sich im Hinblick auf den kulturellen Hintergrund schlussfolgern, dass eine solche Zeichnung durchaus zwecks Provokation auf der ersten Seite des Heftes abgedruckt wurde. Abschließend lässt sich zudem konstatieren, dass satirische Karikaturen nicht nur dem Zweck der Belustigung folgten, sondern sie trugen teilweise auch zur Skandalisierung des Publikums bei, indem (Sex-)Skandale auf groteske und plastische Weise bildlich darstellten.
[1] Vgl. Bösch 2009, S. 119. Es sei hier zusätzlich auf den Fall Friedrich Albert Krupp verwiesen, dessen Exzesse mit jüngeren männlichen Liebhabern auf der Insel Capri es 1902 in diversen europäischen Zeitungen schafften und für Aufregung sorgten.
[2] Stark 2017, S. 115.
[3] Domeier 2014, S. 757.
[4] Vgl. Bösch 2009, S. 46.
[5] Stark 2007, S. 117.
[6] Vgl. Bösch 2009, S. 141f.
[7] Domeier 2014, S. 737.
[8] „Sodoms Ende“, Titelblatt von „Der Wahre Jacob“ 547 vom 9. Juli 1907, S. 5453, online: https://doi.org/10.11588/diglit.6549#0167 [25.09.2023].
[9] Vgl. Tumber/Waisbord 2019, S. 11.
[10] Vgl. Steakley 2004, S. 18.
[11] Steakley 2004, S. 22.
[12] Allen 1984, S. 3.
[13] Vgl. Steakley 2004, S. 12ff.
[14] Um dieses Argument zu untermauern, sei es hier exemplarisch auf andere, ebenfalls im ‚Wahren Jacob‘ veröffentliche Karikaturen verwiesen, die zwar Aspekte wie Homosexualität und Männlichkeit thematisieren, jedoch vergleichsweise nicht dermaßen skandalös wirken: „Nachtleben in Potsdam“, in: WJ 557 vom 26.11.1907, S. 5616 und „Militärische Neuerungen“, in: WJ 557 vom 26.11.1907S. 5621, online: https://doi.org/10.11588/diglit.6549; „Vom Strafvollzug“, in: WJ 559 vom 17.12.1907, S. 5663, online: https://doi.org/10.11588/diglit.6549 [25.09.2023].
[15] Bösch 2009, S. 150.
[16] Harden, Maximilian: Dies Irae, in: Die Zukunft 57 vom 24.11.1906, S. 287–302, online: archive.org/details/diezukunft42hardgoog/page/286/mode/2up [25.09.2023].
[17] Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell. Schauspiel, Stuttgart 2014 [1804], 4. Aufzug, 3. Szene, S. 107.
[18] Bösch 2009, S. 122.
Weiterführende Literatur
Allen, Ann Taylor: Satire and Society. Kladderadatsch and Simplicissimus 1890–1914, Lexington 1984.
Bösch, Frank: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914 (Veröffentlichungen des Historischen Instituts London, Bd. 65), München 2009.
Domeier, Norman: The Homosexual Scare and the Masculinization of German Politics before World War I, in: Central European History 47 (4) 2014, S. 737–759.
Stark, Gary D.: Aroused Authorities. State Efforts to Regulate Sex and Smut in the German Mass Media 1880–1930, in: Not Straight from Germany. Sexual Publics and Sexual Citizenship since Magnus Hirschfeld, hg. von Michael Thomas Taylor, Annette F. Timm und Rainer Herrn (Social History, Popular Culture, and Politics in Germany), Ann Arbor 2017, S. 110–132.
Steakley, James: Die Freunde des Kaisers. Die Eulenburg-Affäre im Spiegel zeitgenössischer Karikaturen (Bibliothek Rosa Winkel, Bd. 37), Hamburg 2004.
Tumber, Howard/Waisbord, Silvio: Media and Scandal, in: The Routledge Companion to Media and Scandal, hg. von denselben, London/New York 2019, S. 10–21.
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