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Ein Diskurs zur politischen Pressekarikatur oder: Warum „Christian Lindner ein Allerweltsgesicht hat“

Workshopbericht: Muster der politischen Pressekarikatur Interdisziplinäre Perspektiven
18. September bis 19. September 2023

Die Bedeutung und gesellschaftliche Sprengkraft, die einer politischen Pressekarikatur innewohnen, werden uns spätestens anhand von Ereignissen wie dem Terroranschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion oder der Entscheidung, die New York Times ausschließlich ohne politische Karikaturen zu veröffentlichen vor Augen geführt.
Als Teil des medialen Diskurses sind politische Pressekarikaturen fest etabliert. Mit oft nur einem Bild provozieren sie bei den Betrachtenden eine ganze Bandbreite an Emotionen, die sich beginnend mit Zustimmung, über Erheiterung, bis hin zu entrüsteter Verärgerung erstrecken kann. Diese Provokation zielt einerseits auf die Auseinandersetzung mit politischen Themen ab, verweist andererseits jedoch auf die nicht selten herrschende gesellschaftliche Spaltung.

Diesem rhetorischen Wirkungspotenzial und damit einhergehend der Frage nach Bild-Text-Mustern in seinem Dienst ging jüngst der zweitägige Hybrid-Workshop „Muster der politischen Pressekarikatur“ am Kompetenzzentrum Trier Center for Digital Humanities nach. Der Interdisziplinarität des Schwerpunkts entsprechend, fanden sich Forscher*innen und wissenschaftliche Mitarbeiter*innen aus den Bereichen Geschichte, Mediengeschichte, Medienwissenschaft, Literaturwissenschaft und Bibliothekswissenschaft zusammen und tagten unter der Moderation von PD Dr. Rüdiger Singer. Die thematische Klammer bildet dabei ein geplantes Forschungsprojekt, in dessen Rahmen Text-Bild-Muster ausgewählter (Ereignis-)Karikaturen aus der sozialdemokratischen Satirezeitschrift Der wahre Jacob durch Annotationen in einer Online-Ausgabe sichtbar gemacht werden sollen. Für die Anreicherung mit Metadaten sowie die Indexierung in einer zentralen Datenbank sollen die Annotationen in fünf verschiedenen Datenmodi aufrufbar sein, die Singer wie folgt gliedert:

  1. Faktuale Referenzen
  2. Bildspezifische Muster
  3. Textspezifische Muster
  4. Text-Bild-Oberflächenmuster
  5. Text-Bild-Tiefenmuster

Zur Veranschaulichung des geplanten Projekts stellte Thomas Burch (Trier Center for Digital Humanities) Kurt Schwitters‘ intermediale Netzwerke der Avantgarde als Beispiel für eine digitale Edition von Text-Bild-Hybriden vor. Die Herausforderung liegt dabei sicherlich in der Präsentation des medien- und kunstformenübergreifenden Schaffens. Die Edition stellt den Nutzenden eine Oberfläche zur Verfügung, die es erlaubt, in interaktiver Weise ein Close Reading der Artefakte vorzunehmen. Auf ihr kann zwischen mehreren Darstellungs-Modi gewechselt werden: Im einfachen Ansichtsmodus können die faksimilierten Seiten genau studiert werden, indem man sich stufenlos hinein- und hinauszoomt, und erhält grundlegende Informationen zu jedem Werk. Im Untersuchungsmodus kann man den Kursor auf Einzelelemente der Bildfläche lenken und von dort zu Kommentaren, Übersetzungen und Querverweisen auf andere Hefte. Im Vergleichsmodus schließlich lassen sich zwei beliebige Seiten quer durch das Korpus nebeneinander anordnen und vergleichen, auf die man beispielsweise durch die Suche nach vergleichbaren Mustern gekommen ist. All diese Präsentations-Elemente lassen sich auch für politische Karikaturen nutzen. Metadaten wie Karikaturist:in oder Veröffentlichungsdatum werden überwiegend im Ansichtsmodus präsentiert, Bild- und Textmuster im Untersuchungsmodus. Der Vergleichsmodus ist nicht zuletzt deshalb interessant, weil sich so konkret Karikaturen der vergangenen Jahre (Stuttgarter Zeitung) mit solchen des deutschen Kaiserreichs (Der Wahre Jacob) vergleichen lassen. Allerdings ist die Kommentierung politischer Karikaturen umso aufwändiger, je weiter sie historisch zurückliegen. Deshalb lag der Fokus der ersten Workshop-Beiträge vor allem auf dem 19. Jahrhundert.

Mit dem ersten Beitrag stellte Bettina Müller (Heidelberg) Die Online-Präsentation von ‚Satirezeitschriften‘ auf der Homepage der Heidelberger Universitätsbibliothek und im Weimarer ‚Simplicissimus‘-Projekt vor. Anhand der inzwischen abgeschlossenen Digitalisierungs-Projekte berichtete Müller zum einen von anfänglichen Schwierigkeiten (wie beispielsweise der fehlerhaften Texterkennung von Frakturschrift), die heute allein dank technischer Weiterentwicklung und neuer Softwareangebote vermeidbar wären, sowie zum anderen dem Ziel der vollständigen digitalen Bereitstellung der Zeitschriften zur Ermöglichung weiterführender wissenschaftlicher Forschung. Innerhalb der Förderphase des DFG-Projekts digitalisierte die Universitätsbibliothek Heidelberg circa 70 Zeitschriften mit annähernd 100.000 Karikaturen (Stand September 2023 sind es über 370 Zeitschriften). Eine besondere Herausforderung bei der Aufarbeitung von Karikaturen sei das Identifizieren der Karikaturist:innen gewesen, einerseits weil diese in Deutschland nicht als Künstler*innen in Fachlexika gelistet wurden, andererseits weil oftmals ein symbolisches Künstler:innenzeichen anstelle eines Kürzels als Signatur gesetzt wurde: So verewigte der Karikaturist Robert Jacob Hamerton sich beispielsweise mit der Zeichnung eines Hammers in einer Tonne.

Es folgte ein Vortrag von Andreas Beck (Bochum) mit dem Titel Zur Interaktion zwischen Karikaturen und Layout-Patterns in Zeitschriften des 19. Jahrhunderts. Beck führte vor, wie illustrierte Journale des 19. Jahrhunderts mittels ihrer Layouts und ihrer Schrift-Bild-Syntax kommunizieren. Der so entwickelte Formenkanon hatte seinen Ursprung in England und fand seinen Weg über Frankreich nach Deutschland und weiter innerhalb Europas in kleinere romanische sowie slawische Länder.
Anhand der Zeitschriften Über Land und Meer, Kladderadatsch und Der Wahre Jacob erläuterte Beck die „eingespielte Layout-Kommunikationsform“: So nähert sich beispielsweise nicht selten der Schriftsatz den Zeichnungen an, was in einer sich meist über die Doppelseite erstreckenden Gesamtkomposition resultierte.
Auch wies Beck darauf hin, dass politische Karikaturen sich oftmals auf tagesaktuelle Ereignisse bezogen, jedoch in Zeitschriften veröffentlicht wurden, die einmal wöchentlich erschienen. Folglich musste bei der Rezeption diese Zeitverschiebung mitgedacht werden.

Eine anschließende Plenumsdiskussion entwickelte sich mit Blick auf den noch folgenden Vortrag von Lukas Wilde vorrangig in Richtung sequenzieller Narration, womit die Grundfrage der Bildeinteilung angerissen wurde, die auch als Kategorisierungsansatz des künftigen Projekts von großer Relevanz sein wird: Wann handelt es sich um ein einzelnes Bild und ab wann um eine Serie? Zeigt eine Karikatur beispielsweise zwei Szenen, die eine, egal ob zeitliche oder inhaltliche, Entwicklung wiedergeben, so wird sie dennoch als Karikatur, nicht etwa als Comic verstanden, obgleich die dem Comic zugrundeliegende und viel besprochene sequenzielle visuelle Narration vorliegt.

Der Vortrag von Monika Lehner (Wien) ging der Frage nach Nationalstereotypen in Pressekarikaturen des 19. Jahrhundert nach. Interessanterweise schienen einige Bildelemente fast aus einem Horror Vacui heraus entstanden und eher willkürlich zu einem national bestimmenden Motiv geworden zu sein. Dass die Differenzierung aus eurozentrischer Sicht oftmals ungenau bis fehlerhaft war, ist zwar auffällig, überrascht aber kaum. So wurden Darstellungen, die die japanische und chinesische Kultur oder auch Politik betrafen – nennenswert ist an dieser Stelle Long, der chinesische Drache, der oftmals heute noch als Fabelwesen des gesamten ostasiatischen Kulturkreises angesehen wird – erst mit Eintreten des Ersten Japanisch-Chinesischen Kriegs als divergent verstanden und gekennzeichnet wurden.
Bezeichnend ist, dass sich das „visuelle Vokabular“ stellenweise so nachhaltig tradierte, dass beispielsweise der Bär nach wie vor als Verkörperung Russlands verstanden wird, ebenso wie sich der deutsche Michel auch gegenwärtig als Personifikation Deutschlands in Karikaturen findet (wenn auch nur in deutschen).

Im Rahmen des Künstlergesprächs mit dem Karikaturisten Rolf Henn, der unter dem Pseudonym Luff für die Stuttgarter Zeitung arbeitet, lieferte dieser Einsichten in die Arbeit und Publikationsvorgänge. So betonte er, er „reinszeniere“ Bilder und gehe oft vom „Unsichtbaren ins Sichtbare“, indem er viele Motive in der Sprache, vor allem in Sprichwörtern und Redewendungen, finde. Bei der Umsetzung befolge er dann oft die westliche Schriftrichtung, indem er ihr die Bewegungsrichtung von Figuren anpasse. Interessant wird es vor allem, wenn sich ein zeichnerisches Element entgegen der Leserichtung bewegt und damit Spannung und Unruhe evoziert.
Während des Gesprächs wurde außerdem deutlich, dass Zeitungsredakteur:innen die Karikaturen oftmals ohne das Wissen der Urheber:innen bearbeiten, indem sie diese beispielsweise beschneiden oder, wie im folgenden Beispiel, mit einer zusätzlichen Bildunterschrift versehen.

Weitere Einblicke in das Schaffen eines Karikaturisten lieferte anschließend Heiko Sakurai. Er erklärte, dass er gerne mit allegorischen „Figuren“ arbeite, um auf den ersten Blick unsichtbare Ereignisse darzustellen. So kam es, dass der Klimawandel von ihm meist mit einem Wirbelsturm oder einem Tsunami verbildlicht wird. Schnell wurde deutlich, dass ein solches Vorgehen sehr typisch für die Arbeit von Karikaturist:innen ist: So kam es auch, dass sich innerhalb kürzester Zeit das „Coronamonster“ (ein gezeichnetes Wesen, dessen Grundform sich an den Elektronenmikroskopie-Bildern orientiert und häufig anthropomorphe Züge aufweist) als Visualisierung des Virus etablierte.

Darüber hinaus lenkte Sakurai den Blick auf internationale, genauer französische und englische Karikaturist:innen, die gerne – ähnlich wie er – mit Bildzitaten arbeiten. Das Schöne daran sei, so betonte er, dass die Karikaturen mittels ihrer Botschaft auch ohne Kenntnis der Vorlage funktionieren, kenne man sie aber doch, erfreue „man sich sehr an seinem Bildungsbürgertum“. Das Gespräch erreichte seinen Höhepunkt, als Luff und Sakurai sich über zeichnerische Interna austauschten und zu der Erkenntnis kamen, dass Christian Lindner mit seinem „Allerweltsgesicht“ die Zeichner unabhängig voneinander vor eine – inzwischen gut gemeisterte – Herausforderung stellte.

Die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Karikaturen und Comics stand im Mittelpunkt des Vortrags „Pressekarikaturen des 19. und 21. Jahrhunderts als Bilderzählungen in einem und mehreren Panels", mit dem Lukas Wilde (Trondheim) den zweiten Sitzungstag eröffnete.

Nach einem Einblick in die Geschichte und der Vorstellung aktueller Tendenzen der Comicforschung erläuterte er die Problematik von „Einbild-Cartoons als Grenzbereich‘“: Dabei wurde deutlich, dass die Definitionen des Comics fast ausschließlich die visuelle Sequenzialität als vorherrschendes Charakteristikum anführen, weshalb Karikaturen, die aus einem Bild bestehen, sich außerhalb dieser Kategorie befinden. Zugleich können und sollen – wie bereits angedeutet – Karikaturen aus zwei oder mehr Bildern nicht als Comics definiert werden. Als Charakteristikum der Karikatur verweist Wilde hingegen auf die Pointe und möchte trotz der, auf den ersten Blick, semiotischen Ähnlichkeiten vor allem hinsichtlich der Text-Bild-Verbindungen Comics und Karikaturen als verschiedene Bildgattungen verstanden wissen. Die Unterscheidung soll vor allem mittels medialer und historischer Kontextualisierung sowie über die Rezeption der einzelnen Gattungen erfolgen. Zudem nennt er mit der „Hybridisierung“, der „Cartoonisierung“ und der „Narrativierung“ drei Analysekategorien, die zugleich Forschungsdesiderate aufzeigen und potenzielle neue Untersuchungsobjekte bergen. 

Der abschließende Beitrag von Anne Ulrich (Tübingen) mit dem Titel „Von der Bedrohung zur Selbstreflexivität: Gespenstermetaphern in der Karikatur“ begann mit einer Kurzanalyse und Definition allgemeiner Bedrohungskommunikation, die wiederholt ihren Weg in verschiedene Karikaturen findet. Darauf aufbauend vertrat Ulrich die These, dass das Gespenst in der Karikatur „die eigentümliche Präsenz und Absenz der Bedrohung“ als kommunikatives Phänomen zu symbolisieren scheine, zugleich aber als Trugbild fungiere. Auffällig sei, dass das Gespenst in der Pressekarikatur oftmals als Textträger fungiert, was dazu führte, dass in der Plenumsdiskussion auf seine visuelle Nähe zur Sprech- oder Denkblase hingewiesen wurde.

Es bleibt also festzuhalten, dass die lang tradierte Bildgattung der politischen Pressekarikatur die Forschung noch vor einige Fragen stellt, nicht zuletzt, da die Produktion stets fortgesetzt wird, sich zugleich mit immer neuen Themen konfrontiert sieht und innerhalb kürzester Zeit einen Umgang damit finden muss. Anhand der Tatsache, dass Karikaturen inzwischen thematisch abgestimmt tagesaktuell und ohne Verzögerungen erscheinen, erkennt man die enorme Abhängigkeit von Bildträgern und Produktionsbedingungen. Trotz dieser Anpassungsfähigkeit funktioniert die Karikatur aber nach wie vor in erstaunlichem Maß über klassische Tropen wie die Allegorie, die sich als Möglichkeit der Veranschaulichung von abstrakten Begriffen oder Themen durch die Karikatur zieht. In der Tagung wurde das besonders deutlich am Beispiel des russischen Bären, der in Karikaturen von Daumier bis Sakurai durch den Workshop tapste.

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