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Fotografie im Dritten Reich: Erna Lendvai-Dircksen's "Nordseemenschen"
Das menschliche Gesicht als Spielfeld ideologischer Auseinandersetzung im Dritten Reich? Mit dem Fotobuch „Nordseemenschen“ von 1937 werfen wir im Rahmen unserer Reihe #fotoliteraturdigital einen Blick auf das Werk der wegen ihrer Distanzlosigkeit zum Nationalsozialismus höchst umstrittenen Fotografin Erna Lendvai-Dircksen (1883-1962). Gezeigt werden 22 Schwarzweißfotografien, bei denen es sich mehrheitlich um ausdrucksvolle Porträts einer armen, von der Arbeit gezeichneten norddeutschen Landbevölkerung handelt, die durch ihre fotografische Inszenierung noch heute als Kunstwerke, aber auch als Zeitdokumente Bestand haben. Das Fotobuch ist eine von insgesamt über 300 Publikationen, die auf dem Themenportal Fotografie von arthistoricum.net kostenlos als Volltextdigitalisate zur Verfügung stehen.
Die in „Nordseemenschen“ publizierten Bilder sind Teil eines Langzeitprojekts, das Lendvai-Dircksen bis zu ihrem Tod beschäftigen sollte. Mit dem Ziel, das „deutsche Volksgesicht“ fotografisch abzubilden, begann sie schon ab 1917 systematisch Bildnisreihen aus allen Regionen des Deutsche Reiches anzufertigen, wobei begleitend auch zahlreiche heimatkundliche Architektur- und Landschaftsaufnahmen entstanden. Konzeptionell erinnert ihre Arbeit somit stark an das in etwa zur gleichen Zeit begonnene, aber ebenfalls nie vollständig realisierte Fotoprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ von August Sander (1876-1963), dem eine Typologie der deutschen Bevölkerung anhand von Porträtfotografien vorschwebte. Während sich Sander allerdings als Dokumentar begriff, stilisiert Lendvai-Dircksen ihre anonymen, nur durch geographische Zuschreibungen bezeichneten Modelle als volksgemeinschaftliche Identifikationsfiguren. In der Vorstellung der Fotografin repräsentieren die markanten, kantigen Gesichter der „nordischen“ Landbewohner den vom Aussterben bedrohten, natürlichen Ausdruck des „Volksmenschen“, dessen Physiognomie sie im Kontrast zum sogenannten Stadtmenschen als „rein“ und frei von äußeren Einflüssen beschreibt.
Obwohl sich Lendvai-Dircksen in ihren Texten vehement gegen die moderne Fotografie positionierte, offenbart ihr fotografisches Werk eine Divergenz zwischen rückwärtsgewandten Inhalten und modernen Ausdrucksformen. Ihre Porträts knüpfen zwar deutlich an die Bildästhetik des Dritten Reiches an, dennoch bedient sie sich vorzugsweise neusachlicher Gestaltungsmittel wie der Betonung der Diagonalen oder einer gesteigerten Nahsicht. Mit dunklen bzw. unscharfen Hintergründen werden die porträtierten, anonymen Modelle aus Ihrem unmittelbaren Umfeld isoliert und markante Gesichtszüge betont.
Lendvai-Dircksen betrieb seit 1913 eine Fotowerkstatt in Hellerau und später ein Porträtstudio in Berlin. Für ihren Beitrag zur Deutschen Photographischen Ausstellung in Frankfurt a.M. erhielt sie 1926 den Staatspreis des Reichspräsidenten Paul Hindenburg. Nach der Zerstörung ihres fotografischen Archivs 1943 lebte sie in erst in Oberschlesien und ab 1946 in Coburg. Trotz ihrer zumindest fragwürdigen Karriere im Dritten Reich gilt Erna Lendvai-Dircksen als bislang meistpublizierte deutsche Fotografin.
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