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Wissenschaft als work in progress

Ende letzten Jahres war eine sehr sympathische ältere Frau bei mir, die sich um den Nachlass ihres Vaters kümmert. Dieser Mann spielt in der Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts eine nicht ganz unwesentliche Rolle. Besonders am Herzen lag ihr eine Biographie ihres Vaters, mit deren Zusammenstellung sie schon seit Jahren beschäftigt ist. Ich habe sie gefragt, wie lange sie noch dafür brauchen würde, und sie meinte, es dürfte schon noch eine Weile dauern. Mein Vorschlag, das Vorhandene schon einmal niederzuschreiben und online zu veröffentlichen, stieß – wie nicht anders zu erwarten – auf wenig Begeisterung. Dabei hätte sie auf der Basis dann weiter arbeiten können, ohne dass man Gefahr liefe, dass etwa aus Krankheitsgründen selbst die vorläufige Version nicht zustandekäme. Im klassischen Druckwesen ist eine solche Vorgehensweise natürlich nicht denkbar, weil viel zu teuer und auch unpraktisch. Aber im Digitalen? Die ganze wikipedia funktioniert so. Das Medium erlaubt eine Neudefinition des Textes, der seinen Endgültigkeitscharakter verliert (welcher freilich auch im Gedruckten nur eine Fiktion ist) und zu einem permanenten work in progress mutiert. Viele von uns hören das mit Schrecken. Mich fasziniert es.

11 Kommentar(e)

  • Andererseits kenne ich Verlage, die seltene Drucke herausbringen. Ich könnte mir vorstellen, meine wissenschaftliche Arbeit online zu veröffentlichen und in einer gekürzten und publikumsfreundlichen Form auf Spezialpapier mit einem besonderen Layout in einer kleinen Auflage drucken zu lassen. Wie ich das kommen sehe, werden Drucksachen sowieso zunehmend zu teuren Rara mutieren.

  • Hubertus Kohle
    13.03.2010 07:49

    Frage 1: Ganz unbescheiden: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/frontdoor.php?source_opus=764&la=de (scrollen!)
    Zum grundsätzlichen Aspekt noch mal unbescheiden: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/30/30291/1.html (da die Passage über das nur auf den ersten Blick staunenswerte Faktum, dass ein online vorhandener Text den Verkauf des Druckes nicht etwa verhindert, sondern im Gegenteil eher befördert)

    Frage 2: Stimmt. Das führt dann dazu, dass nur die Texte gelesen werden, die als Sonderdruck durch die Gegend geschickt werden. Nicht gerade ein erstrebenswertes Ziel! Es stimmt trotzdem. Aber Kulturen kann man ändern, und wenn sie überleben wollen, müssen sie sich sogar ändern! Frei nach Tommasi di Lampedusa: "Wenn wir wollen, daß alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, daß alles sich verändert"

  • >kennen Sie (oder irgendjemand, der hier mitliest)...
    nein, kenne ich leider nicht.

  • Caroline Gabbert
    12.03.2010 15:11

    @he: Was wollen Sie eigentlich? Vielleicht formulieren Sie mal Ihren Standpunkt, anstatt mich immer nur von der Seite anzumachen.

    @Hubertus Kohle: Vielen Dank für Ihre Antwort.

    Aber: kennen Sie (oder irgendjemand, der hier mitliest) denn einen konkreten Fall, in dem ein Verlag ein Buch trotz bestehender Online-Fassung im Nachhinein gedruckt hat?

    Und: Die Frage "Drucken - ja oder nein" ist eben keine rein pragmatische Frage, sondern auch eine der "Wissenschaftskultur". Ich erinnere dabei nur an die Praxis des (rituellen) Austauschs von Belegexemplaren ...

    Caroline Gabbert

  • >Hier die Autoren zu schelten...

    Ach! Wo wurden hier Autoren gescholten? Und wenn es nicht an Autoren liegt, dann liegt es an Herausgebern? Vielen Dank für diese Einsicht! Vielleicht erfahre ich auch irgendwann von sandrart.net (nachdem die "Eigenleistung des Einzelnen" auf diesem Gebiet geklärt ist) ob, wann und wo der Autor im 17. Jahrhundert beispielsweise in Paris übersetzt, gedruckt, verkauft und gelesen wurde. Bis dahin ziehe ich es vor, das über virtuelle Fachbibliotheken selber herauszufinden. Es geht nämlich schneller. Auf jeden Fall danke für die Empfehlung der mir bis jetzt unbekannten und nach eigener Einschätzung guten Internetseite.

  • Hubertus Kohle
    12.03.2010 11:15

    Also ich fand das nicht zu harsch! Kommunikationen in blogs tendieren ja ueberhaupt dazu, ein wenig direkter daher zu kommen. Daran muss man sich gewoehnen.

    Zur Sache kann ich nur sagen: Meine diversen Interventionen in dem Feld zielen ja gerade darauf ab, die Vorteile des online-Mediums auf unterschiedlichen Ebenen zu erlauetern.

    - Ob eine Online-Publikation in jedem Fall die beste Wahl für ein Projekt ist?
    Da heute das entweder - oder eigentlich gar nicht mehr gilt (vgl. hierzu vor allem die diversen Beitraege in Klaus Grafs archivalia: http://archiv.twoday.net/) wuerde ich jetzt einfach mal ganz frech sagen: Ja, in jedem Fall ist eine online-Publikation die beste Wahl für ein Projekt - gedruckt werden kann es ja trotzdem. Ich rezensiere gerade eine Kuenstler-Briefausgabe. Hat sicherlich 100.000e gekostet. In 10 Jahren sind so viele neue Briefe aufgetaucht, dass man alles noch mal machen muesste. Online wuerde man einfach ergaenzen.

    - ob die Wahrnehmung und Anerkennung geleisteter Forschung auch für Online-Publikationen in gleichem Maß gilt?
    nein, bislang sicherlich nicht. Aber das wird sich (hoffentlich) aendern!

    - ob man auf “Autorschaft” in der wissenschaftlichen Publikation verzichten kann?
    nein, sicherlich nicht. Aber das ist ja in dem von mir vorgeschlagenen Modell auch gar nicht gegeben. Und wie Sie selber richtig sagen, stimmt es entgegen verbreiteter Meinungen auch bei der wikipedia nicht.

  • cgabbert
    12.03.2010 10:47

    Hallo,

    offensichtlich habe ich mein Anliegen etwas zu harsch formuliert - wenn ich mich im Ton vergriffen habe, möchte ich mich hiermit in aller Form entschuldigen. Meine Absicht war es nicht, auf diese Art und Weise den Dialog zu behindern.

    Zu dem Beitrag möchte ich meine Position noch einmal deutlicher formulieren.

    Eine Lösung für die wissenschaftliche Publikation eines Projekts, an der sich der "work in progress" beobachten lässt, kann man sicherlich ganz gut z. B. bei sandrart.net sehen. Mit Wikipedia, das von außen besehen auf die Nennung der Autorschaft des Einzelnen verzichtet und die Darstellung von Wissen in ein soziales Netzwerk einbindet, lässt sich das nur insofern vergleichen, als dass die Autoren gemeinsam mit einer Anwendung arbeiten, die auch zur Publikation des Projekts dient. Die Frage der Autorschaft und damit die Eigenleistung des
    Einzelnen bleibt davon unberührt - die Kommentare sind namentlich gekennzeichnet. Insofern folgt das Projekt den Gewohnheiten einer wissenschaftlichen Publikation.

    Für mich stellen sich in Bezug auf das hier angeführten Beispiel mehrere Fragen:
    - ob eine Online-Publikation in jedem Fall die beste Wahl für ein Projekt ist.
    - ob die Wahrnehmung und Anerkennung geleisteter Forschung auch für Online-Publikationen in gleichem Maß gilt.
    - ob man auf "Autorschaft" in der wissenschaftlichen Publikation verzichten kann. Denn letztlich weiß man auch von der Wikipedia, dass intern die Autoren nicht anonym sind.

    Es erscheint mir zweifelhaft, ob man diese Fragen vorbehaltlos bejahen kann. Gerade die hier beschriebene Initiative einer einzelnen Person, zeigt genau die Schwachstellen auf.

    Der Erfolg von Online-Publikationen lebt von sozialen Netzwerken, in das diese eingebettet sind. Lässt sich ein Autor von den Vorteilen dieses Netzwerks nicht überzeugen, dann fehlen diesem offensichtlich die Anerkennung oder die richtigen Argumente. Hier die Autoren zu schelten, finde ich zu einfach.

    Caroline Gabbert

  • p.s. Oder kann mir jemand ein für allemal erklären, was an PR (sprich: Selbstvermarktung, sprich: Eigenwerbung, sprich: Konsum usw.) verwerflich ist, damit ich auch in die Diskussion einsteigen kann? Auch wüsste ich gerne, wie sich die Leidenschaft eines am "System" Teilnehmenden von der Leidenschaft eines sich dem "System" Verweigernden unterscheiden ließe? Wenn möglich würde ich auch gerne verstehen, von welchem "System" gesprochen wird, wer dieses "System" zu verantworten hat und wie man im gleichen Atemzug für Abgrenzung (vom Nächsten) und Mitgefühl (für den Nächsten) plädieren kann?

    Sorry! Ich geb's auf! Es übersteigt meine Kräfte, dieser Form des Dialogs zu folgen.

  • Bei der Lektüre eines Internetsbeitrags zur Medienkunst (http://www.artefakt-sz.net/allerart/artists-do-not-make-art) fiel mir auf, dass eine kunsthistorische Abhandlung über die kathartische Funktion der Abscheu und die sie verursachenden, visuellen Mittel in der Kunst von der Antike bis zur Gegenwart bislang ausbleibt, obwohl sie im Hinblick auf den latenten Ikonoklasmus abendländischer Kultur keinen unwesentlichen Beitrag zum Verständnis mancher Abwehrhaltung gegenüber sinnlicher Genüsse leisten würde.

  • cgabbert
    11.03.2010 10:38

    Die hier geäußerte Kritik am kunsthistorischen Publikationswesen ändert auch nichts daran, daß Internetpublikationen in vielen Fällen nur als ein besseres PR-Instrument wahrgenommen werden.

    Wie könnte denn ein fairer „work in progress“ aussehen, der den Anteil aller Beteiligten sowie die vorgenommenen Veränderungen abbildet und der zugleich wissenschaftlichen Standards genügt?

    Letztlich passen sich die Autoren doch auch nur an die Spielregeln des "Systems" und dessen Hierarchien an. Mein Eindruck ist, daß eine Standortbestimmung der Kunstgeschichte zur aktuellen Diskussion um Urheberrechte von Bildern und Texten fehlt und die Erarbeitung einheitlicher Standards für wissenschaftliche Internetpublikationen (bzw. eine begründete Aneignung bestehender Standards und Instrumente) notwendig ist. Ansonsten wird sich auch an der Akzeptanz gegenüber nützlichen Webanwendungen wenig ändern.

    Noch eine Beobachtung: Im Gegensatz zu der hier charakterisierten Nachlaßverwalterin haben Sie offenbar eine andere Haltung zum Schreiben und zum Publizieren. Die Art und Weise, wie Sie Ihre Begegnung verarbeiten, erscheint mir wenig mitfühlend.

  • Und dabei ist es unendlich wichtig, den Wert des Werkes zu erhalten. Das geht nur, wenn man alle Medien bedient, auch das Internet. Niemand vergisst so schnell wie der Kunstmarkt. Den Fehler machen viele Erben.

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