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Digitale und analoge Welt ergänzen einander

Gastbeitrag von Ioana Herbert

 

Digitale und analoge Welt ergänzen einander
Folge 1: „Grinsende“ Löwen am Rhein

 

An mehreren Stellen kann man diesem Blog den Lehrsatz entnehmen, dass digitale und analoge Welt einander ergänzen. Tägliche Erfahrungen bestätigen diese These, denn wie das Zusammenspiel von digitaler und analoger Wirklichkeit passiert, ist im Alltag recht oft und vielfach überraschend zu beobachten. Meistens kann ein optischer Reiz aus der analogen Welt (Motiv, Detail, Aspekt aus der Wirklichkeit) mittels digitaler Welt (im Internet leicht zugängliches Hintergrundwissen) erschlossen, ergänzt und/oder bereichert werden. Nicht selten sind dann die digital neu erworbenen Erkenntnisse ein Anlass dazu, zu der analogen Welt zurückzukehren und mit anderen Augen darauf zu blicken.
Neulich stellte ich nach einem Kurzurlaub anhand meiner Fotos fest, dass sich ähnliche, wenn nicht sogar gleiche Motive ohne erkennbare Absicht in die Kamera eingeschlichen hatten. Woran das liegt, kann vermutlich nicht endgültig beantworten werden. Möglich ist, dass Stimmungen für kurze Zeitspannen das Sehen prägen, und unabhängig davon, wo man sich gerade aufhält, der Blick auf ähnliche Dinge fällt. Möglich ist aber auch, dass kulturhistorisch miteinander verwandte Reiseziele sich anbieten, ähnliche Eindrücke mitzunehmen, auch wenn die Orte zeitlich und räumlich weit voneinander liegen. Dann ist es auch zum Beispiel kein großes Kunststück (selbst wenn als Souvenir etwas ungewöhnlich) „grinsende“ Löwen am Rhein zu fotografieren.
Der eine Löwe „grinste“ mich zu Beginn meiner Reise von der berühmten Galluspforte (1150/70) an der Nordseite des Basler Münsters (1019-1500) an. Begeistert von der Raumwirkung der zwei auf der Südseite des Münsters gelegenen Kreuzgängen fotografierte ich zunächst die Westtürme aus dem großen Kreuzgang, dann die gestaffelten Bogengänge aus dem kleinen Kreuzgang, passierte anschließend die Choraußenseite und gelangte just vor dem genannten Portal. Von oberhalb der Statue des Evangelisten Markus blickte mit beneidenswert intaktem Gebiss und Schriftrolle in den Pfoten ein geflügelter Löwe hinab, den ich sofort ablichtete.

 

Basel, Münster, Blick aus dem großen Kreuzgang auf die WesttürmeBasel, Münster, kleiner KreuzgangBasel, Münster, Galluspforte, Detail

 

Einige Tage später und rund 800 km weiter flussabwärts besichtigte ich in Köln die romanische Kirche St. Maria im Kapitol (1049-1065, wiederaufgebaut 1956-1984) und machte – ohne sonderlich zu überlegen - ähnliche Bilder: Westteil der Kirche aus dem Kreuzgang, Arkaden und Anbauten des Kreuzgangs, schließlich einer der Löwen (Spolien, neuromanisch, 19. Jhdt.) am Eingang in die Kirche, der zweite während dieser kurzen Reise.

 

Köln, St. Maria im Kapitol, Blick aus dem Kreuzgang auf die WestfassadeKöln, St. Maria im Kapitol, KreuzgangKöln, St. Maria im Kapitol, Löwe am Eingang in die Kirche

 

Ohne Absicht mich mit dem Thema wissenschaftlich auseinanderzusetzen, recherchierte ich bei meiner Rückkehr im Internet nach möglichen Quellen des Löwenmotivs in der romanischen Kunst am Ober- und am Niederrhein und fand ziemlich rasch (wie für Kenner vermutlich nicht anders zu erwarten war) über das Stichwort „Bestiarien“, zahlreiche Hinweise auf den „Physiologus“, die frühchristliche Naturlehre, die häufig illustriert im europäischen Mittelalter große Verbreitung fand. Wie ich anhand einiger Bilddatenbanken feststellen konnte, zierten profane wie religiöse Texte mild „lächelnde“ bis breit „grinsende“ Löwen über Jahrhunderte hinweg die Seiten von Handschriften. Vielleicht wanderten sie dann mit diesem physiognomischen Detail - das sich für Darstellungen in Miniaturen viel mehr eignet und dort die abgebildeten Löwen gar nicht so freundlich-gewinnend erscheinen lässt - in die Kunst der Steinmetzer.

1 Kommentar(e)

  • Eine Freundin schreibt mir, dass "britische und bayerische Löwen selten oder gar nicht grinsen. Sehr ausdrucksvoll - meist schwer besorgt - sind auch die auf ostjüdischen Grabsteinen, z.B. in der Bukowina!" Da müssen wohl andere Musterbücher in Umlauf gewesen sein als im abendländischen Kontinentaleuropa im Mittelalter. Französische Löwen "grinsen" nämlich gelegentlich auch [vgl. La Dame
    à la licorne (Flandern, Ende 15. Jhdt.)in musée de Cluny, Paris]. :)

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