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FONTES 52: 'Um mit eigenen Augen zu sehen' – William Hogarth: 'The Analysis of Beauty'

 

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“Um mit eigenen Augen zu sehen”: William Hogarth, The Analysis of Beauty. Written with a view of fixing the fluctuating Ideas of Taste, London 1753.

 

Obwohl im Titel vom Hogarths Buch das Wort ‘Taste’ (Geschmack) an prominenter Stelle steht, ist das Werk hauptsächlich damit beschaftigt, die Quellen der Schönheit nachzuweisen, und dabei zu erklären, warum Gegenstände ‚schön’ sind. Geschmack bedeutet vor allem das Erkennen des Schönen. Der ‚Untertitel’ von Hogarths Buch – „die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen“ – spiegelt seine Irritation über die vielen widersprüchlichen Ideen über das Schöne und über die oft vermutete Unerklärbarkeit von künstlerischer oder ästhetischer Exzellenz wider.

 

Hogarths Buch ist, nach seinen eigenen Worten, vor allem einer Analyse der Form durch Linien (“lineal analysis of form”) gewidmet. Nach kurzen Behandlungen der sechs Prinzipien der Schönheit (Schicklichkeit bzw. Zweckmäßigkeit, Mannigfaltigkeit, Regelmäßigkeit bzw. Symmetrie, Einfachheit, ‚Verwicklungen’, Größe), wendet sich der Verfasser fast ausschließlich der Erörterung der Form zu. Es mag überraschend wirken, einem Traktat zu begegnen, das so intensiv der Form gewidmet ist, wenn es aus der Feder eines Künstler stammt, in dessen  Stichen und Gemälden literarischer Sinn, soziale Themen und Moral die Leitrollen spielen. Aber als Künstler verlässt sich Hogarth auf seine eigene Beobachtung der Natur und sein gut geschultes visuelles Gedächtnis. Das Buch zeigt immer wieder wie sehr Hogarth sich mit formalen Fragen beschäftigt hat. Frederick Antal schrieb, “the whole book deals exclusively with formal problems.” Hierin liegt ein Teil der Modernität Hogarths Abhandlung, die zeitweise fast an moderne formalistischen Kriterien erinnert.

 

Hogarths Theorie, oder sein „System“, wie er es zwischendurch nennt, ist trotz anderer bedeutenden Aspekte weitgehend von seiner „line of beauty“ dominiert, eine gedrehte S-förmige Linie (Schlangenlinie). So steht denn auch in der zeitgenössichen Rezeption der ‚Analysis‘ die Schlangenlinie immer im Vordergrund. Isoliert betrachtet mag die Schlangenline wie ein alles erklärender Code erscheinen, wie eine geniale Erfindung, die zuerst alles begreiflich zu machen scheint, doch letzten Endes keinen Schlüssel zum ewigen Reich der Schönheit bietet. Sie ist nur eine speziell geschwungene Linie, die an die Stelle anderer Formeln tritt – meist mathematischer oder geometrischer Natur – wie zum Beispiel die des Goldenen Schnittes oder die Systeme musikalischer Proportionen, die oft zur Erklärung des Geheimnisses von ‚Schönheit’ angeboten werden. Würde es in Hogarths Werk tatsächlich lediglich um die Schönheitslinie gehen, könnte man meinen, sie sei den zahlreichen Listen und geschickten Schachzügen des Künstlers zuzurechnen, zu denen beispielsweise seine Auktionen, Lotterien und anderen Werbe-Pläne gehören, die dazu dienten, seine Gemälde und Stiche bekannt zu machen und gewinnbringend zu verkaufen. Dagegen spricht jedoch die Tatsache, dass in der ‚Analysis’ die Wellen- und Schlangenlinien in einen Kontext eingebettet sind, in dem ein breites System von Schönheitsprinzipien artikuliert wird und die fundamentalen Komponenten künstlerischer Form diskutiert werden. Als allgemeinsten Ausdruck der Schönheit stellt Hogarth die Mannigfaltigkeit (‘Variety’) fest. Das Hogarthschen System beruht auch auf einem sehr umfangreichen Substrat von Exempeln, die zum Teil aus dem Bereich der  Kunst, häufiger aber aus dem der Natur beziehungsweise aus seiner eigenen Alltagsbeobachtung stammen. Es werden also unmittelbare Beobachtungen von Leben und Natur, die vor allen Dingen in den graphischen Werken des Künstlers sichtbaren Eingang gefunden hat, in zahlosen Beispielen angeführt, um die Argumente und Thesen der ‚Analysis’ zu untermauern.

 

Das Auge bildet den Mittelpunkt des Systems von Hogarth. Sein Interesse an der Psychologie des Sehens steht im Einklang mit der Betonung von Empirismus und Sinneserfahrung, mit der der Erkenntnis von Form durch visuelle Wahrnehmung. Als ein Mann der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sah Hogarth wie andere seiner Zeit die Schlangenlinie als die Linie des Ehabenen (“the sublime in form”, p. 51).

 

Die meisten modernen Interpretationen der ‚Analysis of Beauty’ sind noch etwas fragmentarisch und unsystematisch. Auch wenn die Abhandlung von Hogarth in ihren Hauptzügen nicht schwer zu verstehen ist, ist sie nicht immer so einfach in ihrer  Tiefe zu begreifen. Die Beziehung der vielen Details zum Ganzen verdient eine durchdringende und umfassende Analyse. Die ‚Analysis’ zeigt die ungewöhnliche Fülle und Vielfalt der Gedankenwelt des Verfassers und ermöglicht einen Einblick in Geist und Mentalität Hogarths, der über seine Gemälde und Druckgraphik in dieser Form nicht zu erhalten ist. Ohne die ‚Analysis’ würde also ein großes Kapitel seines Denkens fast gänzlich fehlen.

 

Obwohl in der ‚Analysis’ die Opposition Hogarths zu den zeitgenössischen Befürwortern der Altmeister der Malerei und der Antike eindeutig zum Ausdruck kommt, wandte der Künstler selbst sich nicht gegen die Kunst der Vergangenheit: er sah sich eher als Teil der künstlerischen Tradition, wie er in seiner Vorrede mehrmals bemüht ist, zu beweisen.

 

Das Jahr der ersten Veröffenlichung der ‚Analysis’in London, 1753, liegt nahe an den  chronologischen Grenzen von FONTES. Das Werk blickt nicht nur auf die Tradition sondern auch auf die Zukunft. Es erfuhr eine beträchtliche Resonanz nicht nur in Großbritannien sondern auch auf dem Kontinent. Es bietet also ein hervorragendes Beispiel der europaweiten Verflechtung des Kunstdiskurses und seiner Bedeutung.

 

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English version

“To see with our own eyes”: William Hogarth, The Analysis of Beauty. Written with a view of fixing the fluctuating Ideas of Taste, London 1753.

 

Although the word ‘taste’ figures in the title of Hogarth’s book, his work is centrally concerned with demonstrating the sources of beauty – why objects are beautiful. Taste is essentially the recognition of beauty, and Hogarth’s subtitle reflects his irritation with conflicting ideas about beauty and the often presumed inexplicability of artistic or aesthetic excellence.

 

Hogarth’s book is, in his own words, dedicated primarily to a “lineal analysis of form”. After a brief treatments of six principles of beauty (fitness, variety, symmetry, simplicity, intricacy, quantity), Hogarth turns almost completely to his treatment of form. It may appear puzzling to discover a treatise so intently dedicated to form written by an artist in whose works literary meaning, social content, and morals seem prima facie to play such a preponderant rôle. But as a practising artist Hogarth relied on his own observations and his self-trained visual memory. His book demonstrates that he had given very much thought to formal questions. Antal wrote that “the whole book deals exclusively with formal problems.” Here lies part of the modernity of Hogarth’s treatise, which at times invokes nearly modern formalistic criteria.

 

Hogarth’s theory, or “system”, as he at several points identifies it, is, in fact, dominated by his “line of beauty”, a turning S-shaped line. In the contemporary reception of Hogarth’s ‘Analysis’, the serpentine line is always at the forefront of the discussion. Viewed in isolation, it might seem an almost contrived and artificial explanatory key, one which seems to explain, but one which in the last analysis does not truly hold the key to the eternal realm of beauty – a particular curving line instead of other formulas, such as the golden section or schemes of musical proportions or other proportional relationships, proposed as the secret of beauty. Were the line of beauty offered alone, it might seem to belong to Hogarth’s numerous ruses and gambits, typified by his picture auctions and lotteries and other promotional schemes for selling his prints and pictures. But, in the ‘Analysis’, the waving and serpentine lines of beauty are embedded in the context of an amplified and articulated system of the principles of beauty and propounded in terms of the essential components of pictorial, sculptural, and architectural form as well as with reference to the human body (and to human behaviour). Hogarth’s system also rests upon and is exemplified by a very extensive substratum of illustrative examples, to an extent, from art, but drawn also, and drawn preponderantly from nature, from Hogarth’s own observation of life. Thus the direct observation of life, of nature, so manifest in Hogarth’s graphic works, is equally reflected in the countless examples drawn from nature used to illustrate his arguments and precepts in the ‘Analysis’.

 

The eye is located at the centre of Hogarth’s system. His interest in the psychology of seeing accords with the emphasis empiricism had placed on sensation, the knowledge of forms through visual perception. Hogarth – a man of the first half of the eighteenth century – also sees the line of grace is as the line of sublimity (“the sublime in form”, p. 51) in line with the taste of his time.

 

Modern readings of the ‘Analysis’ remain to an extent fragmentary and somewhat unsystematic. While Hogarth’s treatise is not difficult to understand in terms of many of its distinctive features, it is not so easy to fathom in depth. The relationship of the many details to the whole deserve a more penetrating and comprehensive analysis. The ‘Analysis’ reveals in unusual detail a mind at work, opening a view onto the mind and mentality of Hogarth that cannot be gained from his paintings and prints alone. Without the ‘Analysis’ we would be missing a large chapter of Hogarth’s thought.

 

Although Hogarth’s opposition to contemporary advocates of the old masters and the antique is manifest in the ‘Analysis’, he was not opposed to the art of the past as such, and he saw himself as belonging to its traditions, as his preface to the ‘Analysis’ is at pains to demonstrate. The publication date of his treatise, 1753, lies near the chronological limits of FONTES, and the work itself is also forward-looking. It enjoyed a considerable resonance not only in Britain but on the continent as well, affording an instance that illustrates the pan-European dimensions of thinking about art and its significance.

 

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