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„Die Moderne“ als politisches Konstrukt: Otto Karl Werckmeister eröffnet in vier Statements den Zugang zu seinem neuen Buch

Ein Gastbeitrag von Wolfgang F. Kersten und Otto Karl Werckmeister


Anlässlich der Veröffentlichung seines Buches The Political Confrontation of the Arts in Europe from the Great Depression to the Second World War, das bei arthistoricum.net ART-Books in der Schriftreihe „Zurich Studies in the History of Art“ von Wolfgang F. Kersten erscheint, hat der Herausgeber den Autor darum gebeten, vier Statements zu seinem grundlegenden Werk zu formulieren.

1. Thema

Von 1929 bis 1939, im Jahrzehnt vom Beginn der Weltwirtschaftskrise bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurden die Künste in Europa stärker politisiert als je zuvor. Regierungen, Parteien und Interessengruppen drängten darauf, sie einer Innenpolitik gesellschaftlicher Stabilisierung und einer Außenpolitik staatlicher Selbstbehauptung dienstbar zu machen. Damit wurde die relative Freiheit, die ihnen nach dem Ersten Weltkrieg zugefallen war, eingeschränkt, bedroht oder aufgehoben. Sie wurden in die Auseinandersetzungen zwischen antagonistischen politischen Systemen hineingezogen, die schließlich zum Zweiten Weltkrieg führten. Sie verfingen sich in einem dreiseitigen Konflikt zwischen Kommunismus, ‚Faschismus‘ und Demokratie, in dem kunstpolitische Richtlinien verordnet und ideologische Kunstprogramme proklamiert wurden. Das führte zu einer politischen Konfrontation der Künste.

2. Historiografische Kritik

Nach dem Zweiten Weltkrieg und seit Beginn des Kalten Krieges wurde diese Konfrontation ideologisch schematisiert. Dabei wurden Kommunismus und Nationalsozialismus unter dem Begriff des Totalitarismus gleichgesetzt und dem Verständnis des Antagonismus zwischen traditioneller und moderner Kunst zugrunde gelegt. Da sowohl in der Sowjetunion als auch im Dritten Reich jene einseitig gefördert und jene summarisch unterdrückt worden war, wurde moderne Kunst im Namen der Freiheit nachträglich zur Kunst der Demokratie überhöht. Das widersprach der kulturpolitischen Lage im Jahrzehnt der Wirtschaftskrise. Damals rangen traditionelle und moderne Kunst sowohl in totalitären als auch in demokratischen Staaten noch um Akzeptanz. Das moderne Credo subjektiver Ausdrucksfreiheit war zwar de facto ein demokratisches Grundrecht, setzte aber kein Bekenntnis zur politischen Demokratie voraus.

3. Historische Revision

Heute ist die weltweite Polarisiereng zwischen Demokratie und Kommunismus, die im Kalten Kriege ausgefochten wurde, multilateralen politischen Konflikten zwischen demokratischen und autoritären Staaten gewichen, die in der kapitalistischen Weltwirtschaft miteinander vernetzt sind, miteinander konkurrieren, und sich durch Stellvertreterkriege gegeneinander militärisch abzusichern suchen. In der flankierenden neoliberalen Kultur floriert die moderne Kunst auf dem Weltmarkt und hat deshalb eine weltweite kulturpolitische Dominanz gewonnen, die jene Konflikte ignoriert. Ihre triumphalistische Inszenierung verengt im Rückblick die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert auf ‚die Moderne‘ als hypostasierte welthistorische Epoche. Im Widerspruch zu dieser ideologischen Hypostasierung versuche ich im vorliegenden Buch die politische Geschichte ihrer Konkurrenz mit der traditionellen Kunst ins Gleichgewicht zu bringen.

4. Begrifflichkeit

Die überbordende Literatur über die Kunst der ‚dreißiger Jahre‘ hat noch immer keine begrifflich schlüssige, vergleichende Gesamtdarstellung hervorgebracht. Wie instruktiv auch immer sie unsere Kenntnisse erweitert und vertieft, ist sie doch zusammenhanglos geblieben. Ihre akademischen und öffentlichen Vorbedingungen unterwerfen sie dem neoliberalen Prinzip planlosen Wachstums, das Akkumulation, Duplikation und Substitution befördert. Damit ist sie ist über jede bibliografisch verantwortliche Synthese durch das Denken eines Einzelnen hinausgewachsen. So ist auch das vorliegende Buch keine Synthese, sondern ein Argument, das ausgewählte Quellen und Forschungsergebnisse unter den beiden Grundbegriffen der politischen Geschichte – Politik und Ideologie – konzeptionell zusammenführt. Substanielle Wesensbegriffe nach Maß zu prägen oder von anderen Autoren zu übernehmen‚ – ‚Copyrightbegriffe‘, denen die Namen ihrer Erfinder in Klammern beigegeben sind –, habe ich vermieden. Meine Begrifflichkeit ist epistemologisch, nicht substanziell, lässt sich im Oxford English Dictionary kritisch nachprüfen und von allen Lesern teilen oder korrigieren. Sie ermöglichen auch eine nachvollziehbare Kritik des ganzen Buchs.

Curriculum Vitae Otto Karl Werckmeister: nach oben

1934 in Berlin geboren, studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Freien Universität Berlin und promovierte dort 1958 mit einer Arbeit über spätkarolingische Goldschmiedekunst. Nach mehrjährigen Forschungsaufträgen am Warburg Institute (University of London) und am Deutschen Archäologischen Institut, Abteilung Madrid, wurde er 1965 als Associate Professor an die University of California, Los Angeles, berufen und dort 1971 zum Professor ernannt. 1972–1974 und 1983–1984 war er Vorsitzender der Fachgruppe Kunstgeschichte an dieser Universität. 1984–2001 lehrte er als Mary Jane Crowe Distinguished Professor in Art History an der Northwestern University in Evanston, Illinois. Seit 2001 lebt er wieder in Berlin.
1976 gründete Werckmeister zusammen mit T. J. Clark and David Kunzle den ‘Caucus for Marxism and Art’ innerhalb der College Art Association of America. 1981–82 war er John Simon Guggenheim Memorial Fellow, 1986–87 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. 1979 war er Gastprofessor an der Universität Marburg, 1981 an der University of Texas in Austin, 1983 an der Northwestern University, 1991 an der Universität Hamburg.
Werckmeisters Forschungen konzentrieren sich auf frühmittelalterliche und romanische Kunst, auf die politische Geschichte der Kunst in den beiden Weltkriegen und der Zwischenkriegszeit, sowie auf Theorie und Historiographie der Kunstgeschichte. Zu seinen Büchern zählen Ende der Ästhetik, Frankfurt 1971; Ideologie und Kunst bei Marx und andere Essays, Frankfurt 1974; Versuche über Paul Klee, Frankfurt 1981; The Making of Paul Klee’s Career, 1914-1920, Chicago 1989; Zitadellenkultur, München 1989 (englische Ausgabe: Citadel Culture, Chicago 1991); Linke Ikonen, München 1997 (englische Ausgabe: Icons of the Left, Chicago 1999); Der Medusa Effekt, Berlin 2005; Die Demontage von Hans Bellmers Puppe, Berlin 1911.
Werckmeisters Position in der Kunstgeschichte wird in einer Diskussion erörtert, die in der Festschrift zu seinem sechzigsten Geburtstag erschien: “‘Radical Art History’. Ein akademisches Gespräch über O. K. Werckmeister”, in: Wolfgang Kersten, ed., Radical Art History. Internationale Anthologie – Subject O. K. Werckmeister, Zürich 1997, pp. 11–27.

Otto Karl Werckmeister
The Political Confrontation of the Arts in Europe from the Great Depression to the Second World War, (Zurich Studies in the History of Art, Georges Bloch Annual,
University of Zurich, Institute of Art History, 2019/20, vol. 24/25), Heidelberg, ART-Books, 2020

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