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Navid Kermani über Guido Reni

Es war die essayistische Beschreibung eines Altarbildes von Guido Reni, die die Debatte um den Hessischen Kulturpreis ausgelöst hat. In den Kommentaren der Tagespresse ist schon viel zum Thema des Bildes im interreligiösen Dialog geschrieben worden. Jedoch wurde kaum auf das nämliche Altarbild eingegangen: eine Darstellung des Gekreuzigten im San Lorenzo in Lucina. Das Bild wurde ausweislich einer lateinischen Inschrift der Kirche im Jahr 1669 von der Bologneser Marchesa Cristina Duglioli Angelelli gestiftet; gemalt hat es Reni wohl wie andere Bilder desselben Thema um 1637-1638. Das Altarbild von Reni wurde anlässlich der Stiftung in einem vermutlich von Carlo Rainaldi entworfenen Altaraufbau integriert, dessen Giebel von der Darstellung der „Madonna della sanità“ bekrönt wird. Die ikonographische Besonderheit des noch lebenden, gekreuzigten Christus, „cristo vivo“, ist von Kermani mit einer eindrucksvollen Beschreibung bedacht worden. Diese Darstellung nimmt von Michelangelos Kruzifix für Vittoria Colonna ihren Ausgang, bei dem nach Auskunft von Condivi das Kreuzeswort „Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ dargestellt ist; Vasari war da anderer Meinung. Im Barock jedoch steht der „cristo vivo“ nicht mehr für die Gottverlassenheit Christi, sondern vielmehr ist die Präfiguration der Auferstehung das zentrale Thema. Christus steht gewissermaßen schon im Licht Gottes und stellt so das Kreuz und den Kreuzestod in den Schatten.

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