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Der Künstler und sein „kleiner Teufel“

Dispero... When will I fall?

Wer den Namen Leonardo Da Vinci hört, denkt sofort an die Lichtgestalt der Renaissance: Künstler, Universalgenie, Architekt und Erfinder. Hinter dem schillernden Alleskönner verbirgt sich eine andere, düstere Seite, die allerdings den wenigsten bekannt sein dürfte. Die zehnteilige Comic-Miniseries „Chiaroscuro – The Private Lives of Leonardo Da Vinci“ befasst sich ausführlich mit den Schattenseiten und Misserfolgen in Da Vincis Leben. Wie der Name schon verrät, zeigt das Comic einen privaten Da Vinci als zentralen Punkt der Geschichte, doch ist er nicht alleiniger Protagonist. Sein Lehrling Gian Giacomo Caprotti, von Leonardo liebevoll Salai („kleiner Teufel“) genannt, nimmt nicht weniger Raum in dem Comic ein. Wie genau standen die beiden zueinander? Was geschah zwischen ihnen? Diese Fragen versucht das Comic „Chiaroscuro“ mittels wiederkehrenden Leitmotiven zu beantworten.
Ein Zusammentreffen zweier Welten - so soll die Begegnung Da Vincis und Salais gewesen sein. Salai „the street-smart everyman version of the Renaissance“ und der schillernde Künstler Leonardo, „the lofty individual of greatness that helped give a future to us all“.
Ein eindrucksvoller Mann rettet einen kleinen, von den Eltern misshandelten Jungen; dies zeigt das Comic in Form einer Erinnerung Salais, die Panels sind passenderweise in nostalgischen Sepiatönen gezeichnet. Mit Tränen in den Augen blickt der kleine, geschlagene Junge zu dem großen schönen Mann auf: Leonardo, der Retter in der Not.
Es handelt sich dabei um einen eindeutigen Schlüsselmoment des Comics und den Anfang Salais Zeit in Leonardos Haushalt. Der kleine dreckige Junge von der Straße, steigt empor und befindet sich schon bald am Hofe italienischer Edelleute. Die Erinnerung geht nicht weniger schwärmerisch weiter, jedoch aus Sicht des Künstlers. Heroisch errettet er den kleinen Jungen aus den Händen seiner Eltern und Peiniger, blickt ihm ins Gesicht und scheint überwältigt. Salai ist etwas für Leonardo, was der Leser so noch nicht sieht und begreifen kann.
Um es begreiflich zu machen führt ein Traum des Künstlers gekonnt durch die Komplexität der Beziehung der beiden Protagonisten. In diesem sieht man Da Vinci als kleinen hilflosen Jungen, sich rettend an ein Pferd klammernd, in einem großen stürmischen Gewässer. Von dem Kind mit Horror in den Augen beobachtet, taucht hinter ihm aus dem Wasser ein gigantisches Wesen auf. Diese Mis-en-page des Comics wird eingeleitet mit den Captions „Dispero...“ und „When will I fall?“, passend dazu stürzt ein Vogel in die sich zusammenschlagenden Wellen.

The Giant

Erst gegen Ende des Comics, im achten Heft, erfahren die Leserschaft und Leonardo selbst, was es mit dem Giant auf sich hat. An dieser Stelle erhält die monströse Gestalt einen Namen und somit Symbolik. Es ist kein geringerer als Leonardos großer Rivale Michelangelo Buonarroti. Nicht nur in künstlerischer Hinsicht sticht Michelangelo Leonardo in der Story des Comics aus. Salai unternimmt Michelangelo gegenüber deutliche Annäherungsversuche, wie auch zuvor in der Geschichte schon bei seinem Lehrer Leonardo. Durch diese Aktion versetzt der Schüler seinem Meister einen eindeutigen Tiefschlag. So symbolisiert der aus dem Wasser auftauchende Giant zugleich Salais Verrat an Leonardo, als auch Michelangelos künstlerischen Triumph über ihn.

Das Pferd

Das Comic behandelt auch die Zeit Leonardos, in der er an dem großen Sforza-Monument, einer riesigen Pferdestatue, arbeitete. Doch hat das Pferd als solches einen tieferen, für den Künstler wichtigeren Sinn. Das Sforza-Denkmal, so hieß es, war in solchem Maße unmöglich, dass niemand es wagen würde sich daran zu versuchen – doch Leonardo tat es. In einem Brief an Ludovico Sforza pries er sich für eben diese Arbeit an. Salai, der die Zeit gemeinsam mit seinem Lehrer am Hof der Sforzas verbringt, fertigt für seinen Lehrmeister, während dieser in den Studien für die Pferdestatue vertieft ist, eine kleine Pferdestatuette an, in der Hoffnung dem Künstler zu helfen und ihm eine Freude zu bereiten. Doch das Gegenteil ist der Fall, Leonardo kritisiert seinen Lehrling, die Situation eskaliert und der junge Salai verlässt weinend den Raum. Eine bezeichnende Situation für die Beziehung der beiden: Salai, der ewige Schüler, welcher dem großen Genie nie ebenbürtig wird und der Künstler, der in seinem Lehrling in erster Linie nur den jungen Schönling sieht. Entsprechend dieser Tatsache werden die beiden in dieser Szene symbolisch von zwei Statuetten verkörpert. Die eine ist Salais, etwas plump gefertigt, unproportional und rustikal. Die andere, Leonardos Pferdestatuette, ist von graziler Gestalt, aus edlerem Material und anatomisch perfekt. So stehen diese beiden Plastiken in dem Arbeitszimmer als Personifikation der beiden: Das kleine linkische Kind aus niederen Verhältnissen und der große strahlende Künstler, vom Adel verehrt und einnehmend in seinem Auftreten.

Vogel und Flug

Um das letzte Element zu verstehen, muss der Anfang des Traumes betrachtet werden. In diesem greifen Kinderhände nach einem in die Höhe fliegenden Vogel, der dann in bunten Farben leuchtet, in einen Sturm gerät und abstürzt. Diese Sequenz geht schließlich über in den vorher genannten Haupttraum Leonardos, in dem „Giant“, Pferd, Vogel und er selbst als kleiner Junge zu sehen sind.
Diese Erinnerung stützt sich auf folgendes Erlebnis: Der kleine Leonardo liegt in seiner Wiege, als sich ein Raubvogel zu ihm setzt und den Mund des Jungen mit seinen Schwanzspitzen berührt. Sein Vater bemerkt es und schießt mit einer Armbrust den davonfliegenden Vogel vom Himmel. Dieses Erlebnis hat zur Folge, dass sich Leonardo sein Leben lang obsessiv mit dem Thema Flug beschäftigt - natürlich spielt dabei seine berühmte Flugmaschine auch eine große Rolle. Der Testflug dieses Apparats stellt in „Chiaroscuro“ eine Wendung in der Beziehung des Künstlers und seines Lehrlings dar.
 

Mit Anekdoten über die zerrüttete Beziehung zwischen Leonardo und seinem Vater bereitet der Meister Salai auf seinen Testflug mit seiner Erfindung vor. Auffällig sind die Parallelen zwischen den Beziehungen, so versucht er Salai klar zu machen, dass dieser auf lange Sicht gesehen den gleichen Fehler machen würde wie Da Vinci selbst, indem er den Mann, den er eigentlich liebte verurteilte und für Dinge hasste, die von menschlicher Natur sind. An diesem Punkt scheint all die Wut, die sich über Jahre in Salai angestaut hat herauszubrechen. So kritisiert der Lehrling er sei immer nur ein Projekt, eine Kreation des Künstlers gewesen. Ein Objekt, das sich nach Leonardos Willen wandeln und modellieren lassen sollte, jedoch wie so viele seiner Werke unfertig blieb. Unterstrichen wird Salais Aussage von der Maschinerie, in welcher er sich in jenem Moment befindet. Wie Salai richtig anklagt, ist auch dieses Werk unvollendet und fehlerhaft, denn nur nach einem Moment des Höhenfluges stürzt er ab, wie der Raubvogel aus Leonardos Kindheit. Und ebenso wie der Vogel, der erschossen wird und damit aus Da Vincis Leben verschwindet, verlässt Salai seinen Meister. In seinem Traum nimmt der Vogel dementsprechend die Symbolik des Unerreichbaren an.

Das Gemälde "Johannes der Täufer"

Ein weiteres wiederkehrendes Motiv, das allerdings nicht im Traum des Künstlers vorkommt, ist sein berühmtes Bild von Johannes dem Täufer. Im Comic ein Gemälde, das der Künstler basierend auf seine Erinnerung an Salai malt, als dieser ihn schon verlassen hat. Diese Erinnerung geht zurück auf ein Vorkommnis, während der Zeit am Hofe der Sforzas. Eine der wenigen, wenn nicht sogar die einzige Szene, in der Salai und Leonardo ausgelassen und freudig gelöst sind. So ist es kein Wunder, dass der Künstler sich gerade an diesen Moment mit aller Gewalt festklammert und ihn auf einer Leinwand verewigt. Auffällig ist, dass er seinen Salai als einen reinen, unschuldigen Heiligen verkörpert. Dies zeigt wie er den Lehrling die gesamte Zeit über sah und zu was er ihn formen wollte. Die Leserschaft erkennt: Mit dem kritischen Vorwurf Salais, ein Werk des Künstlers zu sein, hat er nicht ganz unrecht, so sagt Leonardo selbst über Salai er sei eine Kreation, von ihm geformt, die nicht einmal der Himmel zurückweisen könne.

Die strahlende Version des Schülers verfolgt Da Vinci so sehr, dass er während seinen letzten Atemzügen ebendiese Erinnerung noch einmal durchlebt, mit Blick auf den, von ihm geschaffenen, heiligen Salai. Zuletzt steigt, als Melzi, Leonardos neuer Lehrling, die Aufschriebe seines Meisters verbrennt, eine Rauchsäule in Form von Salai, in jener Pose, gen Himmel. Erst nach dem Tod des Künstlers, so wirkt es, kann die Erinnerung und Salai selbst sich in Freiheit verflüchtigen. Auf diese Art steigt der frühere Lehrling, wie es sich der Künstler so sehr ersehnt hat, doch noch einem Vogel gleich in die Lüfte.

Happy ever after?

„I promise“ sind die letzten Worte Leonardos in „Chiaroscuro“. Zu sehen ist erneut sein Traum, jedoch nun das Ende, das sich deutlich von den vorherigen Traumsequenzen unterscheidet. Aus dem Alptraum ist eine befreite Szene geworden. Der Giant ist fort, der Sturm hat sich gelegt und das Pferd galoppiert in Freiheit den Strand entlang. Über ihm fliegt Salai gen Sonne, von einem Absturz weit entfernt. Die Wiege, in der immer der kleine Leonardo lag und sehnsüchtig die Hände nach oben streckte, als wolle er mitfliegen und den Himmel erkunden, ist leer.
Ebenso wie Salai in Leonardos Gedanken nun befreit durch die Lüfte fliegt, ist auch er selbst befreit von all seinen unerfüllten Sehnsüchten, Ängsten und seinem Scheitern. Die Schrecken sind aus dem Traum verschwunden und das Kind muss sich weder an das Pferd klammern, noch unbeholfen in der Wiege liegen. So zeigen sich alle Traumelemente, die für den Künstler die gesamte Zeit über Horror und Hochgefühl vereinigt haben, zuletzt doch noch von ihrer reinen, guten Seite.

Laura Glötter, Studierende am IEK der Universität Heidelberg
Interessenschwerpunkte: Comic und visuelle Narration

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