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Das Reale in der Realität - Teil 2

Das Digitale scroll to top

Im Gegensatz zum Wirklichen, dem Königlichen oder dem Analogen setzen wir oft das Digitale. Der Inbegriff des Digitalen ist das Netz mit seiner ganzen Vielfalt an Möglichkeiten. Das Netz, in dem nicht ein König herrscht, sondern jeder sein eigener König sei. Wobei das Digitale ebenso wie das Internet ursprünglich nur ein Medium sein sollte. Aber heute ist es in der Kombination in unserem Empfinden, in unserer Wahrnehmung und Bewertung weitaus mehr.

Für die einen ist es ein Paralleluniversum. Diese Sicht nährt die Hoffnung, man könne und müsse die analoge Welt vor der digitalen Welt schützen. Vertreter der Sicht des Paralleluniversums betonen, oft mit pejorativen Unterton, den medialen Charakter des Digitalen. Sie sehen das Netz und seine Bildschirme, über die wir im Netz agieren, als eine Membran mittels derer wir die Wirklichkeit wahrnehmen, ohne sie wirklich berühren zu können. Denken Sie nur an Cybersex als die cleane Form des Geschlechtsverkehrs. Erfüllung sei jedoch etwas anderes.

Für andere ist das Netz bereits das Universum selbst, das die alte Realität in sich aufgenommen hat. Sie plädieren für eine noch umfassendere Digitalisierung unserer Kultur, um den Prozess der Aneignung zu beschleunigen. Im Extremfall werden die analogen Medien nach ihrer Digitalisierung sogar vernichtet, wie es mit vielen Filmen schon geschah (Beleg). Sie prophezeien, dass Dinge, die nicht im Netz gespiegelt seien, also dort unauffindbar sind, aus unserem Bewusstsein fallen würden, und somit verschwänden. So wie in der Frage Einsteins, ob der Mond, den niemand sieht, dennoch leuchtet. (Quantenphysik oder Schrödingers Katze). Wir befänden uns so umfassend und dauernd im Netz, dass die Frage nach einer möglichen Welt außerhalb dieses Netzes bedeutungslos sei, da diese nicht mehr wahrnehmbar wäre. 

Beide Gruppen, die Vertreter des Paralleluniversums und die Vertreter des allumfassenden Netzes, gehen jedoch von der Vorstellung aus, dass das Netz eine virtuelle Realität sei. Wir erinnern uns, eine Realität, die von Computern für viele geschaffen wird. Wenn es aber eine virtuelle Realität gibt, dann gibt es zumindest in der Theorie auch eine Realität außerhalb der virtuellen. So wie diskutiert wird, dass es neben dem unendlichen Universum auch ein Paralleluniversum oder auch mehrere geben könnte (Beleg). Entscheidend ist für mich hier weniger, dass es weitere Universen gibt, sondern vielmehr, dass sie jeweils voneinander getrennt bestehen oder gedacht werden. Zwei Parallelen begegnen sich nicht, oder eben erst in der Unendlichkeit. Tatsächlich gibt es jedoch immer mehr Ereignisse, die dieses Konzept - das Digitale sei eine Welt, und die nicht-digitale Welt eine andere – ad absurdum führen. Denken Sie an den Milch bestellenden Kühlschrank im Internet der Dinge. Oder als vorläufigen Höhepunkt dieser Verschränkung des Digitalen mit dem Analogen an die Genetik. Moderne Genetik ist nicht nur die gedankliche Interpretation der DNA als ein Quellcode des Lebens, sondern dessen tatsächliche Transformation, um neue reale Phänomene – analoge Lebewesen – zu kreieren.  Und dies als eine “crowd”-Bewegung. Denn Biohacker sind so etwas wie Hobby-Genetiker. Wenn Wikipedia das Ende der Experten-Enzyklopädie einläutete, was bedeutet es, wenn jeder am Küchentisch seine eigenes Genlabor bauen kann (Beleg)? Entstehen dann nicht Parallelwelten im Analogen? Ist dann die digitale Welt noch als das Gegenteil der analogen Welt zu bezeichnen?

Auflösen der Grenzen scroll to top

Die Antwort auf die obige Frage muss heißen: Nein. Statistisch nutzt jeder Deutsche  10 Stunden täglich Medien (Beleg). Das ist sicher das Radio im Hintergrund, aber eben auch zunehmend die Nutzung des Smartphones, das bei manchen schon zum Dauerhandschmeichler mutiert ist. Welt wird zunehmend im und über das Digitale erfahren. Die Abgrenzung der digitalen Welt als der nicht-realen Welt löst sich in der Faktizität des Ständig-dort-Seins auf. Wir sind ständig im Netz. Das ist unsere Realität. Wenn Grenzen fließend werden und sich auflösen, dann werden Definitionen des Kerns dessen, was vormals stabil über seine Abgrenzung wurde, wichtiger für die Orientierung in der Welt. Für unseren Zusammenhang bedeutet das, dass wir uns fragen müssen, was denn der eigentliche Wesenszug des Realen ist, um entscheiden zu können, welcher Art die Realität im Digitalen ist. Denn der 3D-Drucker  kann uns noch keine Tasse Darjeeling ausdrucken. Nicht einmal eine echte Nofrete. Und doch wachsen im Netz reale Beziehungen zu Menschen, die wir körperlich nie trafen. Entstehen Wissenssammlungen nie gekannten Ausmaßes in der Zusammenarbeit von Menschen ohne Führung und über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg wie Wikipedia oder Wikidata, deren reale Existenz niemand in Frage stellen kann. Wir kommen letztlich zurück zu der Qualität des Wirkens im Begriff des Wirklichen. Das Digitale ist Realität, weil es Wirkung zeigt.

Jeder ist sein eigener König scroll to top

Das wunderbarste Moment der digitalen Realität ist sein Versprechen, alle gleichberechtigt zu beteiligen. In einer idealen digitalen Realität wäre jeder Mensch ein König. Denn ein jeder könnte sich ein eigenes Reich schaffen, innerhalb dessen nur er, sie oder auf jeden Fall das Individuum selbst entscheidet, was in dieser Wirklichkeit sein soll. Manche nennen es die Filterbubble. Andere Personalisierung. Und dritte warnen schon vor der Parzellierung des globalen Dorfes, bis zur totalen Individualisierung. Aber kann einer König sein, der allein ist? Nein, denn selbst ein König braucht ein Gegenüber, den Untertan. Dann doch lieber gemeinsam als königlich allein. Das Netz kann von seinen Möglichkeiten her demokratisch sein. Ob es das ist liegt an uns. Die digitale Transformation ermöglicht Teilhabe und Gestaltung Teile der digitalen Realität mit viel einfacheren Mittel, für mehr Menschen und womöglich mit größerer Wirkmacht, als es mit analogen Mitteln bislang möglich war.

Doch um dieses Potenzial Realität werden zu lassen, müssen wir uns ändern. Die, die Daten haben, müssen alles dafür tun, dass diese einfach zu finden, leicht zugänglich und zweifelsfrei nachnutzbar sind. Dies ist möglich, wenn die Daten über strukturierte und vernetzte Metadaten verfügen, dann kann man sie finden. Nachnutzung ermöglichen heißt drei Dinge gewährleisten. Die Daten erstens in Formaten anbieten, die einfach verwendbar sind, weil die Software dazu im besten Fall wiederum frei zugänglich (open source) ist.  Zweitens Schnittstellen anbieten und diese nachvollziehbar dokumentieren, um die Daten nicht nur einzeln, wie ein Foto auf einer Website, sondern auch als Datenset adressierbar und zugänglich zu machen. Und drittens, die Daten auch urheberrechtlich einwandfrei als nachnutzbar kennzeichnen.  Ist das gegeben, steht der kreativen Aneignung der Digitalisate für den Bau neuer Wirklichkeiten (Beleg) nichts mehr im Wege.

Auch die Datennehmenden müssen sich ändern. Sie müssen lernen, dass sie in der digitalen Realität nicht nur schauen und staunen, sondern die Möglichkeit haben, selbst zu handeln. Allein und mit anderen gemeinsam. Dazu gehört eine neue Alphabetisierung. Wie schon nach der Verbreitung der neuen Drucktechnik im 16. Jahrhundert müssen wir heute das Lesen, Schreiben und Rechnen im Dialog mit der Maschine neu lernen: Coden. In Daten “lesen” um ihre Qualität und ihre Herkunft beurteilen zu können. Mit Daten “schreiben”, um sie mit zusätzlichen Daten anzureichern, oder um sie in neue Kontexte zu versetzen und mit Daten “rechnen”, um aus immer neu zusammengestellten Datenkontexten neue Antworten auf neue Fragen berechnen zu können. So wie in dieser bereichernden digitalen Transformation von Picassos Guernica realisiert von Lena Gisecke.

Beides, die Anforderungen an die Datengebenden und -nehmenden setzt den Erwerb von Informationskompetenz voraus. Erst wenn Coden eine alltägliche Kulturpraxis wie das Schreiben geworden ist, können wir von einer wahren Demokratisierung der digitalen Realität sprechen.

Fazit scroll to top

Vom Bild im Kopf beim Lesen, über die analoge Gemälde oder Fotografie, die bewegten Bilder im Film bis zu den animierten Bildwelten in Computerspielen sie alle kreieren und zunehmend mit digitalen Mitteln Illusionswelten im Gegensatz zu einer einzig proklamierten Realität. Doch je stärker das Digitale Wirksamkeit ausübt, desto stärker wird seine Wirklichkeit. Mit den Mitteln des Digitalen öffnet sich diese Wirklichkeit zu einer realen Vielfalt. “The real in reality” ist im Digitalen nicht königlich einzigartig, sondern demokratisch divers. Aber Demokratie gibt es nicht umsonst. Sie erfordert die Arbeit eines jeden Einzelnen. Arbeit ist Können – hier Informationskompetenz –  und ein nie endender Vorgang, ein ständiger Dialog in ständig wechselnden Rollen. Willkommen in the brave new world.

Diese Überlegungen erschienen als Beitrag in zwei Teilen;
Teil eins finden sie hier.
Mehr Informationen zur Gastautorin Barbara Fischer, die als Kuratorin für Kulturpatenschaften bei Wikimedia Deutschland e.V. tätig ist, erfahren Sie hier.

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