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Vorschläge zur Neuorientierung der Kunstgeschichte

„Kunst“ und „Kunstgeschichte“, so wie sie traditionell bei uns verstanden werden, hat es faktisch nie gegeben. Es handelt sich hier um verklärende Deutungen, die etwas Utopisches in Aussicht stellen. Als Tatsache kann an den Gestaltungsleistungen der Vergangenheit nur nachgewiesen werden, dass diese symbolische Darstellungen und materielle Manifestationen einer die Augenwelt übersteigenden Wirklichkeit waren. Als Kommunikationsmedien transportierten und manifestierten sie ein zentrales Wissen vormoderner Gesellschaften. In baulicher, figürlicher und bildlicher Form boten sie Vorstellungen des Wirklichkeitszusammenhanges und einzelner Aspekte, in denen dieser erfahrbar schien.

Diese Vermittlung unterlag dem kulturellen Wandel. Die Art der Darstellung änderte sich mit dem Fortschritt des Wahrnehmungsbewusstseins bis hin zu der Erkenntnis, dass Wesentliches, die Sinnenerfahrung Übersteigendes, gerade nicht mit sinnlichen Mitteln eingefangen werden kann. In der Konkurrenz mit dem empirisch begründeten Wissen, das in Sprachbegriffen und abstrakten Symbolen fixiert ist, verblasste der Wirklichkeitsanspruch der anschaulich vermittelten Deutungen. Die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts machte die Uneinlösbarkeit der anschaulich vermittelten Wirklichkeitsdeutung klar. Sie versäumte aber, die symbolischen Medien dieser Deutung als Vermittlungsinstrumente der früheren Welterfahrung bewusst zu machen.

Nach den Zerstörungswellen der französischen Revolution und den in vielen europäischen Staaten obrigkeitlich veranlassten Säkularisationen von Kirchen- und Klostergut wurden die Grundsätze empirisch-rationalen Denkens in fast allen Lebensbereichen durchgesetzt. In der Auseinandersetzung mit der vorausgegangenen Geschichte ergab sich jedoch eine Spaltung der Betrachtungsweisen. Während die Handlungswelt der Realgeschichte rational, d.h. in der Zurechnung zu allgemein nachvollziehbaren Zwecken, rekonstruiert wurde, wurde der Bereich der inzwischen unwirklich gewordenen anschaulichen Symbolik einem „zweckfreien“ Idealhandeln zugesprochen Die überall sonst ausgeschlossene Metaphysik erhielt hier eine Hintertür: „Genies“ und ihren „Mäzenen“ wurde die Kreation scheinbar nur dem „ästhetischen“ Wohlgefallen dienender „Kunst“ zugesprochen. Die gegenüber dem Zweckkalkül verselbständigte „ästhetische“ Erfahrung (der Begriff war erst 1735 geprägt worden) war das ideologische Pendant zu der scheinbar „zweckfreien“ Produktion von Gestaltungen des „Schönen“. „Schön“ war in der vorausgegangenen Auffassung die Hinführung zu höherer Erkenntnis gewesen. Diese Potenz war nicht länger glaubhaft; dafür wurde an der „ästhetischen“ Schöpfung der Vorschein einer sich von Berechnung und Zwang lösenden Denk- und Handlungswelt ausgemacht.

„Kunst“ war so eine von den maßgeblichen Autoren des 18. Jahrhunderts und dem breiten Bildungspublikum neu entdeckte Erlebnisqualität von anschaulichen Gestaltungsleistungen, die als zeitlos und transkulturell wahrnehmbar empfunden wurde. Für die Auseinandersetzung mit dieser scheinbar alles Zweckhandeln übersteigenden Produktion wurden neuartige Sammlungs- und Vermittlungsinstitutionen wie Museen und Akademien geschaffen und geschichtliche Forschungen zu Bauwerken, Figuren und Bildern angestrengt. Obwohl der Eindruck überwältigender „Kunst“ immer wieder bestätigt wurde, veränderte die entsprechende Neuproduktion laufend ihr Erscheinungsbild. Gegensätzliche Gestaltungsrichtungen lösten sich immer schneller ab. Zweieinhalb Jahrhunderte kunstwissenschaftlicher Forschung konnten immer weniger verbindlich festlegen, was „Kunst“ ist, warum und wie sie entstand und welche Objekte dieser Qualität endgültig zuzuordnen sind. Eine Wissenschaft ohne geklärten Untersuchungsgegenstand ist jedoch fragwürdig; für die gegebenen Bildungsinstitutionen und Forschungsvorhaben werden seit vielen Jahren neue Zielbestimmungen diskutiert.

Jede Zielbestimmung muss sich auf das methodisch Erreichbare beschränken. Die vermeintliche „Kunst“ entzieht sich rationalem Zugriff. Die Zurechnung beeindruckender Gestaltungen zu einem nicht fassbaren Gestaltungstrieb jenseits rationalen Agierens ist deshalb aus Gründen der Identifizierungslogik auszuschließen. Andererseits haben die Untersuchungen der seit Beginn der Moderne als „Kunst“ wahrgenommenen anschaulichen Gestaltungsleistungen aus allen Kulturen und Epochen so viele Einsichten in Geschichtliches erbracht, dass dieser Objektfundus eine aufschlussreiche weitere Auswertung verspricht. Man kann, wie es unausgesprochen längst passiert, die Wertbestimmung als „Kunst“ vernachlässigen und sich stattdessen dem Untersuchungsgegenstand der Produktion von anschaulichen Gestaltungen zuwenden. An diese Artefakte ist die Frage nach ihren Darstellungsinhalten und Verwendungszwecken zu richten, wie diese die ikonographische Untersuchung der Einzelobjekte seit langem gestellt hat. Die Forschungen in der Tradition der Warburg-Schule und die traditionelle Darstellungsdeutung der christlichen Bildwelt konvergieren in der Auffassung der Gestaltungsleistungen als Vermittlungsformen von bestimmten Bereichen des (für uns heute) übersinnlichen und abstrakt-geistigen Wissens. Eine solche inhaltlich gerichtete Perspektive ersetzt die bisherige Betrachtung von scheinbar idealistischer „Kunst“-Produktion durch die von symbolischen Darstellungen.

Die Feststellung der eigentümlichen Dynamik dieser Produktion in unserer und anderen Kulturen ist eine wesentliche Beobachtung für die Entwicklungsbeschreibung des gesellschaftlichen Wissens und Denkens und dessen medialer Vermittlungsformen. Die Formen anschaulicher Symbolik bilden einen Teilbereich der Symboliken unmittelbar sinnlicher Eindrücke, denen die abstrahierten Systeme begrifflicher und zeichenhafter Art gegenüberstehen. Die Beschreibung der Veränderung und gegenseitigen Ablösung der verschiedenen Symbolsysteme knüpft an Beobachtungen an, die erstmals in den Ausführungen Hegels zur „Ästhetik“ und zur „Phänomenologie des Geistes“ formuliert wurden. Die Definition des historischen Wandels der Symbolik ist jedoch von Hegels  metaphysischen Prämissen (als Ausdruck des „Weltgeistes“) zu lösen und durch eine Entwicklungstheorie der gesellschaftlichen Kognition zu ersetzen, wie diese von verschiedenen Autoren in der Anknüpfung an Jean  Piaget entworfen worden ist. Diese Entwicklungstheorie ist auf die beobachtbaren geschichtlichen Ausbildungs- und Veränderungsschritte beziehbar.

Die Produktion anschaulicher Gestaltungen wird damit als Vermittlung bewusster und unbewusster symbolischer Erfahrungen sinnlicher Art begreifbar. Die Beurteilung dieser Vermittlung steht – im Gegensatz zur Annahme einer separaten „ästhetischen“ Kommunikation – im Einklang mit den allgemein akzeptierten Wahrnehmungs- und Verhaltenstheorien. Ein wesentlicher Gewinn an Plausibilität bestätigt diese Betrachtungsweise. Die bisher als willkürliche Ausbildung von „Stilen“ beschriebene kulturelle Variation und Weiterentwicklung der Gestaltungsformen lässt sich als logischer Vorgang der Anpassung von Kommunikationsmedien und -Inhalten an Veränderungen des Wissens und Wahrnehmens erklären und damit auf den allgemeinen kognitiven Wandel beziehen. Dieses Verständnis baut die in der kunstgeschichtlichen Forschung gewonnenen Einsichten ein in den Theorierahmen der gesellschaftlichen Kognition.

Die wissenschaftstheoretische und methodische Kritik an der Kunstgeschichte führt zur Frage nach deren Entstehung und zur kritischen Bewertung der Implikationen der „Kunst“-Definitionen von Shaftesbury, Winckelmann, Kant und anderen Autoren. Im Rückblick auf diese Definitionen stellen diese – und damit die heute weltweit verbreiteten Vorstellungen von „Kunst“ und „Kunst“-Geschichte – einen Fehlschluss dar. Die visuellen Gestaltungsleistungen der Weltkultur – von den Pyramiden und Tempeln der Antike über die Kathedralen des europäischen Mittelalters bis zu den Schlössern und den Museumslandschaften der Neuzeit – wurden im 18. Jahrhundert „ästhetischen“ Ausdrucksbedürfnissen und einem scheinbar in der Menschennatur angelegten Objektivierungsdrang von „Kunst“ zugeschrieben. Die Herstellung von zweckfreier „Kunst“ und entsprechende „ästhetische“ Wahrnehmungsbedürfnisse waren neuartige anthropologische Behauptungen, die weder aus dem tradierten Menschenbild noch aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ableitbar waren. Sie erfolgten allein aus der geschichtlich ungesicherten Spontandeutung des überkommenen Objekterbes. Ideologisch verraten sie eine rückwärtsgewandte und weltflüchtige Tendenz, die mit der Kulturkrise der Aufklärungszeit zusammenhing.

Im Gegensatz zu der metaphysischen Deutung als „Kunst“ ergeben sich aus diesen historischen Korrekturen neue Bewertungskonturen der Objektüberlieferung. Das gilt für die Gestaltungen vor der Moderne ebenso wie für die aus der modernen „Kunst“-Deutung begriffenen symbolischen Veranschaulichungen seit der Aufklärung. Was bisher als Leistung und Weiterentwicklung der „Kunst“ erklärt wurde, lässt sich schlüssiger verstehen als solche der Objektivierung und bildlichen Veranschaulichung der geistigen Welt in den Gesellschaften der Vergangenheit. Die erfolgreich eingesetzte und sich vielfach bestätigende ikonographisch-ikonologische Erklärungsstrategie erlaubt die gesamte geschichtliche Gestaltungswelt als anschauliche Symbolik, d.h. als sinnhafte Darstellung von Wissensinhalten zu erfassen. Sie fordert uns allerdings heute das Eingeständnis ab, dass frühere Gesellschaften Bilder, Figuren und Bauwerke als überzeugende Repräsentationen der unsichtbaren Überwelt und Geisteswelt akzeptierten und sich von diesen belehren und überzeugen ließen.

Die gewonnenen Übersichten über die Veränderungsprozesse dieser Symbolik lassen die Merkmale kognitiver Entwicklung erkennen. Bilderbuchvorstellungen wurden abgelöst durch abstrakte Begriffe und rationale Erklärungen. Die Einsicht in diesen kognitiven Umbruch eröffnet ein tieferes Verständnis der historischen Mentalitäten und der Gestaltungstraditionen in Vergangenheit und Gegenwart.

 

Eine ausführlichere Behandlung dieser Thesen finden Sie in: Claus Grimm: Das Rätsel der „Kunst“ ist gelöst. Ein neuer Blick auf die Kunstgeschichte, München 2016

3 Comment(s)

  • Landes
    04.07.2016 09:38
    Diese These des Autors...

    ... ist nicht neu, Bsp. http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/16982/ssoar-1997-grimm-die_kunstgeschichte_fand_nicht_statt.pdf?sequence=1

    Neu ist das Buch bei Beck.

  • Stefan Bartilla
    03.07.2016 19:34

    "Eine Wissenschaft ohne geklärten Untersuchungsgegenstand ist jedoch fragwürdig;"
    Nein, selbstverständlich nicht. Die Naturwissenschaften können auch nicht klären, was "Natur", Physiker nicht, was "Physik" ist, Biologen nicht, was "Leben" ist. Es ist schon lange klar, dass man den Kunstbegriff des 18. oder 19. oder 20. Jh. nicht zurück projizieren kann, aber das macht in der Regel heute auch keiner mehr.
    Hilfreich ist hier die Vorstellung von Idealtypen, siehe den blog von Ludwig Trepl.
    http://www.scilogs.de/landschaft-oekologie/idealtypen/
    Definitionen sind in solchen Fragen notwendigerweise unscharf. Den Begriff "Kunst" durch einen anderen zu ersetzen, hilft da wenig, die Auseinandersetzung mit diesem methodischen Problem kann natürlich das methodische Bewusstsein schärfen.

    • Claus Grimm
      20.07.2016 10:10
      Antwort auf den Beitrag von Stefan Bartilla am 3. 7. 2016

      Für den Einspruch von Stefan Bartilla bin ich dankbar, gibt er mir doch einen Anlass zu Hinweisen auf die Theorie und die Methode, die der geschichtlichen Auseinandersetzung mit anschaulichen Gestaltungsleistungen angemessen sind. Bartilla spricht die Möglichkeit der idealtypischen Beschreibung an. Diese ist aber nicht nur eine Option unter anderen, sondern sie stellt die einzig kontrollierbare Methode historischer Beschreibung und Begriffsfindung dar. Diese Methode stand im Zentrum der Überlegungen Max Webers und der an diese anschließenden Diskussion der „Verstehenden Soziologie“ (Von Schelting 1922, Tiryakian 1963, Bühl 1972). Statt – was als unscharf und unverbindlich missverstanden werden kann - von einem „idealtypischen Beschreiben“ zu sprechen, sollten wir von der „typifizierenden Klassifikation“ der beobachteten Phänomene, bzw. von der Vorgehensweise der (re-)konstruierenden „Typifikation“ sprechen. Im Bewusstsein, dass die Beschreibung historischer Gestaltungsleistungen unvermeidlich Rekonstruktion aus Elementen spontaner gegenwärtiger Identifizierung und historischen Hintergrundwissens ist, müssen wir die Begriffe unserer Identifizierung immer wieder kritisch mit dem historischen Wissen abgleichen.
      Zu den Bedingungen des historischen Sinnverstehens und der angemessenen Typifikation gehört, dass die „Konstruktionen zweiter Ordnung“ (die Typen und Begriffsbildungen des beschreibenden Wissenschaftlers) so weit wie möglich die „Konstrukte erster Ordnung“ (die Typifikationen und Begriffsbildungen der Handelnden im sozialen System selbst) berücksichtigen müssen (Tiryakian 1963, 177, Bühl 1972, 40). Diese letzteren, „existenziellen Typen“ bezogen sich auf die handlungsleitenden Vorstellungen, die faktisch wirksamen Wertideen in den historischen Situationen. An diese sinngebenden Orientierungen der Handelnden und – von außen gesehen – an die Kulturbedeutung des jeweils Hergestellten können wir uns aus der kulturellen Entfernung nur mithilfe des historischen Wissens annähern. Im Zentrum unserer (Re-)Konstruktion steht dabei der intersubjektiv geteilte Handlungssinn der historischen Akteure, dem wir uns über die Kenntnis der historischen Zwecke und Zweckzusammenhänge annähern können. Die faktisch wirksamen Wertideen der historischen Akteure können sich ebenso in deren überlieferten Aussagen spiegeln, deren Bedeutung aber vom jeweiligen kulturellen Kontext her entschlüsselt werden muss.
      Unausgesprochen verfahren viele Interpretationen historischer Gestaltungsobjekte auf diesem Reflexionsniveau; einfach, weil sie so in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu überzeugen vermögen. Eine mittlerweile große Zahl kunsthistorischer Analysen hat entsprechend ihre Objekte als solche einer spezifischen Kommunikation historisch beschrieben; dennoch wurde deren kunsthistorisch vorgegebene Bestimmung (als „Kunst“) nicht korrigiert, was gewiss mit der Kontinuität der Institutionen und Fachgebiete zu tun hat. Doch ist hier der Widerspruch festzuhalten, der zwischen dem immer dichteren historischen Befund und der tradierten Nomenklatur der Objekte besteht.
      Die Kulturbedeutung der anschaulichen Gestaltungen war vor den Zeiten Winckelmanns und außerhalb unserer westlichen Kultur niemals „Kunst“ im Sinn einer Gestaltung für eine „ästhetische“ Betrachtung, sowenig jene Gestaltungen für die Anbringung in Museen oder für die Besichtigung als „Kunstdenkmäler“ geschaffen worden waren. Der Einsatz geringerer oder höherer „Kunst“ (im vormodernen Sinne von „Kennen“ und „Können“ ihrer Verfertiger) kann diese Leistungen zusätzlich auszeichnen, doch die handlungsleitenden Wertideen – und damit die entscheidenden Begründungen für ihre Herstellung – waren bis ins 18. Jahrhundert hinein andere.
      Weil dies ausnahmslos so war, und weil entsprechend eine eigenständige Entwicklungsgeschichte der „Kunst“ in jüngster Zeit von vielen Seiten in Zweifel gezogen wurde, stellt sich die Frage nach dem Untersuchungsgegenstand immer klarer: was wollen und was können wir von den Museumsobjekten und Denkmälern erfahren, wenn diese nicht „Kunst“ waren? Stefan Bartilla widerspricht meiner Kritik einer „Wissenschaft ohne geklärten Untersuchungsgegenstand“. Besser hätte ich formuliert: „ohne geklärte Fragestellung“. Dem gerade Ausgeführten entsprechend muss man noch härter sagen: „mit einem unwahrscheinlich gewordenen Untersuchungsgegenstand“ bzw. „Untersuchungsziel“ oder eben einer „unwahrscheinlich gewordenen „Fragestellung“. Die von Bartilla zitierten Fragestellungen nach der „Natur“, der „Physik“ oder dem „Leben“ und alle Einzelforschungen in solchen weiten Zusammenhängen gehen von vorgeklärten Annahmen aus, die als produktive Hintergrundannahmen den Rahmen der ins Einzelne gehenden Forschung abstecken. Sie kommen in den Titelbegriffen „Natur“, „Physik“ etc. zum Ausdruck, die als Synthesen anspruchsvoller Theorie und aufgrund der Festlegung geeigneter Untersuchungsmethoden gewählt sind. Die begriffliche Bezeichnung leistet hier die Klassifizierung eines Gegenstandsbereiches, dessen weitere inhaltliche Klärung der Forschung übertragen ist. Sobald dieser heuristische Zusammenhang fragwürdig wird, kommt die Forschung an ein Ende, bzw. wird ein weiterhin aussichtsreiches Forschungsprogramm auf seine möglichen Ziele hin umbenannt. So hat sich die Philosophie von der Theologie und deren metaphysischem Erbe getrennt und so schwenkte ein „Goldhersteller“ wie Johann Friedrich Böttger um auf die Porzellanherstellung.
      Die erst in der Aufklärungszeit konzipierte und erst seit damals in der Gestaltungspraxis so angestrebte „Kunst“ für die „ästhetische“ Betrachtung taugt nicht länger als Sinndefinition für die gestalterischen Produktionen früherer Zeiten und anderer Kulturen, die symbolische Darstellungen geistiger Welten waren. Sie ist aber auch als Sinnbestimmung der modernen Produktionen fragwürdig, weil sie aus einer unbeweisbaren und mittlerweile unwahrscheinlichen menschheitsgeschichtlichen Andauer abgeleitet und als naturgegebener Schaffensimpuls unterstellt wurde. Es ist deshalb verständlich, wenn der Zweifel an der Universalität und Eigenständigkeit von „Kunst“ zu Umbenennungen von Forschungsinstituten und Lehrprogrammen geführt hat (z. B. von „Kunstgeschichte“ zu „Bildwissenschaften“).
      Es ist eine Sache der Heuristik, unwahrscheinliche Fragestellungen aufzugeben. Ob jedoch die zwischenzeitlichen Neubenennungen den historischen Gegenständen angemessener sind, ist eine eigene Frage. Sie lautet: Welche Konstanten und welche bewegenden Kräfte können wir angesichts der historischen Objektüberlieferung unterstellen? Bilder, bildliche Vorstellungen und bildliche Zeichen wurden als zentrale Untersuchungsgegenstände reklamiert. Aber die Forderung nach „Bildwissenschaften“ greift zu kurz, einfach, weil sie kein Konzept vorlegen kann, das die typischen Varianten und historischen Entwicklungsformen der Bildproduktion kulturübergreifend bestimmen könnte. Aus der Sicht der hier entworfenen Entwicklungsdarstellung ontologisiert sie ein in der Gesamtentwicklung relativ spätes und nicht überall anzutreffendes Kulturprodukt, die Herstellung von „Bildern“, und vernachlässigt dadurch die entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen dieser medialen Produktion ebenso wie die soziale und politische Dimension der anschaulichen Gestaltungen. Bildern wird ein universales Herstellungs- und Betrachtungsbedürfnis eigenen Wertes unterstellt – statt sie als Entwicklungsstufe medialer Kommunikation zu begreifen (deren jeweilige Ausprägung von ökonomischen und technischen Bedingungen wie von der gesellschaftlichen und politischen Ordnung abhängig bleibt). Die vorgeschichtlichen Steinkreise und die in ihrer Erscheinungsform kompliziert berechneten und im unzugänglichen Inneren vielfältig ausgestalteten Pyramiden, aber auch die Zahlenspekulation in den Bauformen und die arithmetischen und geometrischen Proportionen von Figuren entziehen sich „Bildbedürfnissen“ und müssen daher anders erklärt werden.
      Demgegenüber ist in meinem Buch ein konsequent historischer Ansatz propagiert. Angesichts der Unbestimmtheit und Widersprüchlichkeit des „Kunst“-Begriffs der bisherigen Kunstgeschichte ordne ich der bisher für die Kunstgeschichte reklamierten Objektüberlieferung historische Typisierungen zu. Diese fallen für die verschiedenen Epochen unterschiedlich aus. Bis zur Aufklärung lässt sich von „symbolischen Darstellungen des höheren Wissens“ sprechen, die in den jeweiligen Epochen auf unterschiedliche Inhaltsbereiche und in unterschiedlicher Verbindlichkeit der Darstellung für das Dargestellte zugeschnitten waren. Entsprechend sind die „symbolischen Darstellungen“ nach ihren Themen und Ausdrucksformen zu unterscheiden.
      Die anschließenden Gestaltungsleistungen der Moderne lassen sich ebenfalls als symbolische Darstellungen begreifen, allerdings nicht auf allgemeine Erkenntnisinhalte gerichtet, sondern auf das Erlebnis von „Kunst“ als einer geschichtlich abgeleiteten Utopie. Aus der Krise der symbolischen Darstellung in der Aufklärungszeit und der Neubestimmung der anschaulichen Gestaltung als „Kunst“ für vermeintlich „ästhetische“ Bedürfnisse lässt sich die Entstehung der modernen Gestaltungswelt plausibel machen. Ihre Weiterentwicklung spiegelt die schnell fortschreitende Erkundung der geschichtlichen und kulturellen Relativität der „Kunst“-Erfahrung. Ebenso wird die vorausgegangene, bisher als irrational eingestufte Folge von vermeintlichen „Stilen“ der „Kunst“ erklärbar als Veränderung der symbolischen Darstellung aufgrund des Kognitionsfortschrittes und des veränderten Wahrnehmungsbewusstseins.
      In dieser zusammenhängenden Deutung komplexer Entwicklungsvorgänge liegt ein widerspruchsfreies Erklärungsmodell vor. Dieses bleibt auf dem Boden allgemeingültiger Wahrnehmungstheorie und versteht die gestalterische Produktion als solche von Medien visueller Kommunikation. Deren historische Variation in unserer wie in anderen Kulturen ergibt sich aus ihrem Zusammenhang mit den übrigen Symbolsystemen und unterliegt mit diesen dem Wandel der gesellschaftlichen Kognition, in dem sich das Wissen und das Denken und mit diesen die symbolische Repräsentation der Wirklichkeit kontinuierlich verändert haben.
      Dieses Welterleben wurde in den Bauten, Figuren und Bildern der verschiedenen Kulturen und Epochen manifest. Jene sind die am leichtesten zugänglichen, über die Kulturbarrieren hinweg uns besonders anrührenden Zeugen der Menschheitsgeschichte. „Medien anschaulicher Symbolik“ könnte als Überschrift über den Forschungsvorhaben stehen, die sich u. a. mit den Objekten der bisherigen Fachgebiete „Kunst“ oder „Kunstgeschichte“ auseinandersetzen.

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