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Jasper Johns nahm John Lund. Und wen nehmen wir? Zum Versiegen der Quellen bei Materialien

Albrecht Pohlmanns Positionen zum Material rücken erneut in unser Blickfeld, dass in der Erforschung der künstlerischen Produktion noch immer Hierarchien und Dichotomien gepflegt werden, denen zufolge Acryl- und Ölfarben, Pigmente, Pinsel und dergleichen Werkzeugcharakter haben, der Befundsicherung zugeordnet sind, was selbst dort simplifiziert, wo das Material tatsächlich an Bedeutung verliert, wie Baxandall es für das ausgehende 15. Jahrhundert gezeigt hat.

In zwei Punkten möchte ich Pohlmanns Plädoyers jedoch widersprechen: Erstens ergibt sich die Dringlichkeit der Materialforschung m.E. nicht daraus, dass ihre Marginalisierung Unsinn produziert bzw. dass Marginalisierungen als solche nicht hinzunehmen sind. Zweitens ist die Polemik gegen den methodischen Zugewinn dichter Exegesen durch die Literatur- und die Medienwissenschaften zu relativieren. Denn es macht keinen Sinn, deren Theoretiker für eine defizitäre Argumentation und für eine zuweilen überbordende Sprache durch Kunsthistoriker/innen in Haft zu nehmen. Umso mehr, als viele künstlerische Positionen als auch die Kunstwissenschaft von der in den Literaturwissenschaften anzutreffenden Differenzierung beim Material, das in diesem Fall eben Text ist, profitiert hat. Will doch die Materialforschung, die Pohlmann vorschwebt, genau das, was hier bereits praktiziert: Materialien, die nicht Schrift sind, mit derselben Aufmerksamkeit auf ihre Bedeutungen konstituierenden Effekte hin befragen wie das, was eine konservativere Literaturwissenschaft als Text und was die entsprechende Kunstwissenschaft als Darstellung kennt. Warum sich vorschnell von Perspektiven distanzieren, in denen es genau um diese Einebnung der Differenz zwischen einem ‚wie etwas gesagt ist', ‚womit' etwas gesagt ist und ‚was' gesagt wird, geht? Defizitär ist mithin eher, dass vielen Wissenschaftler/innen zu wenig klar ist, wie komplexe Theorien sinn- und maßvoll sowie mit der gebotenen Skepsis in die eigene Praxis (des Denkens und Analysierens) zu überführen sind.

 

 Zur Dringlichkeit der Materialforschung

 

Ich komme zu meinem ersten Einwand zurück, zu dem Punkt, die Dringlichkeit einer Erforschung der materialen Kultur künstlerischen Produzierens allein in der Marginalisierung (und wie sich Pohlmanns Plädoyer hinzufügen ließe, den methodischen Defiziten gegenüber dem Forschungsstand in benachbarten Wissenschaften) sehen zu wollen. Meines Erachtens resultiert die Dringlichkeit aus ganz anderen Gegebenheiten: Es ist nämlich gar nicht auszuschließen, dass wir, wenn wir nicht rasch handeln, bald gar nicht mehr zu jener dichten Interpretation materialer Qualitäten von Bildwerken fähig sein werden. Denn die Quellen hierfür werden rar. So hat im letzten Jahr jene Papiermühle Insolvenz anmelden müssen, die seit dem 16. Jahrhundert im Allgäu eines der wichtigsten Papiere für die Vervielfältigung von Bildern geliefert hat. Weder kennen wir deren Rezepturen im Detail. Haben diese Unternehmen doch, ganz so, wie es Baxandall und Sennett in ihren Publikationen über die zünftische Organisation des Handwerks beschreiben, ihre Rezepturen über Jahrhunderte allein dadurch geschützt, dass sie sie nur mündlich tradieren. Anders als im Fall der Entwicklung des Blitzlichts oder im Fall der Entwicklung von Filmkameras existieren in den manufaktuell produzierenden Kulturen so gut wie keine Patente und nur Firmenkataloge, die das preisgeben, was ohnehin jeder über die Produktion von Papieren weiß (und wissen kann, um kein so gutes wie X oder Y zu produzieren). Was aber die spezifische Qualität eines Kupferdruckbüttens von der Hahnemühle mit einem Bogengewicht von 80 g im Unterschied zu einem Rives BFK ausmacht, ist jenseits derjenigen Personen, die an den jeweiligen Papiermaschinen stehen und die Produktionsprozesse auf die Einhaltung der Rezepturen hin überwachen, nicht dokumentiert. Allenfalls wissen das Personen, die diese Materialien tagtäglich gebrauchen. Aus diesen Gründen wissen wir auch nichts Näheres darüber, was diese Papiermühle mit dieser spezifischen Produktpalette hat 400 Jahre lang konkurrenzlos existieren lassen. Wir können somit schwer einschätzen, welchen Motiven sich die Vielfalt der Papiersorten verdankt, die unsere grafischen Sammlungen prägt. Sind das materialspezifische Qualitäten, die echte Fortschritte bringen oder resultieren die feinen Unterschiede lediglich aus dem Umstand, dass hier ein weiteres Unternehmen an diesem lukrativen Markt partizipieren wollte?

 

Lacourière-Fréault

 

Ich möchte die Dringlichkeit der Erforschung dieses Bereichs der materialen Kultur künstlerischer Produktion noch an einem zweiten Beispiel veranschaulichen. 2007 schloss Lacourière-Fréault, eine der legendärsten unter den Pariser Druckwerkstätten der Klassischen Moderne.(1) Zwar erwarb die Bibliothèque Nationale den verbliebenen Teil der in der Werkstatt verwahrten Belegdrucke - Drucke, die die Funktion haben, die einzelnen Arbeitsschritte bei der Einrichtung der Auflage und die Kommunikation, die Künstler und Drucker hierüber führen, zu dokumentieren. Im Departement der Zeichnungen und Grafik sind die 725 Bons-a-tirer und Epreuves d'artistes immerhin bestens verwahrt und damit all die Angaben wie „Differencer les valeurs", „plus bleu et moins jaune" oder „bleu claire" die sich auf diesen Drucken finden, gesichert.(2) Wer aber kann heute in den auf den Probedrucken vermerkten Anweisungen und Imperativen tatsächlich lesen? Wer weiß um die spezifischen Probleme der hier verwandten Materialien Bescheid und wäre in der Lage, in etwa die Gespräche zu rekonstruieren, die sich angesichts dieser Probedrucke abgespielt haben? Was bedeutete es, wenn Paul Signac für Auguste Clot solche Anweisungen notierte? War bei einem „forcer bleu" nur die Konsistenz der Druckfarbe zu ändern? Das Papier weniger anzufeuchten? Oder musste in die Steinzeichnung neuerlich reingearbeitet werden, um die Haftungseigenschaften der Druckfarbe zu verbessern?

Können wir tatsächlich nachvollziehen, was André Derain dazu bewogen hat, seine Arbeitsenergie drei Jahre lang an die Herstellung eines mehrfarbigen Holzschnitts zu verschwenden, der die Ästhetik von Spielkarten imitiert? Können wir angeben, was Vollard dazu animierte, mit dieser Auflage eine der kostspieligsten Editionsprojekte durchzuführen, die die Geschichte der Druckgrafik je gekannt hat? Wer kaufte eine solche spielkartenartig aussehende Edition und warum? Warum unterhalten sich Künstler, Verleger und die Mitarbeiter der Druckwerkstatt überhaupt über so simple Dinge wie die Erscheinungsweise eines Rots im Verhältnis zum Grün oder über den Saum und den Teint von Papieren? Warum wechselte Henry Moore achtmal die Papiersorten, bevor er resignierte und den Druck ganz verwarf? - um ein Beispiel jenseits von Lacourière-Fréault anzuführen.

Das Schicksal der Erforschung der Werkstatt Lacourière-Fréault herauszugreifen, erschien mir deshalb lehrreich, weil es in den 1970er Jahren die Chance einer umfangreichen Quellensicherung durch die kunstgeschichtliche Forschung gegeben hat. Aus Anlaß des fünfzigjährigen Jubiläums hatte sich die Werkstatt zu zwei Ausstellungen bereit gefunden: eine im Musée de la ville de Paris, eine zweite fand um Museum des kunstgeschichtlichen Instituts der Universität Bochum statt, die hierzu einen eigenen Katalog herausgab.(3) In diesem Katalog erfährt ein interessierter Leser zwar, wer in dieser Druckwerkstatt ein und ausging. Doch worin die spezifischen Anwendungen der hier praktizierten grafischen Techniken lagen, wie sie sich von anderen Druckwerkstätten unterschieden und was die spezifischen Probleme des Druckprozesses sind, die sich entlang von Probedrucken hätten analysieren lassen, an denen also die Philosophie dieser Werkstatt zu dokumentieren gewesen wäre, so wie es die William Weston Gallery bei der Versteigerung der Probedrucke von Henri Matisse aus dieser Werkstatt tat,(4) das erfährt man in diesem Katalog nicht. Stattdessen bietet er eine Einführung in das Grundwissen grafischer Techniken in einer Simplizität an, die kaum zu überbieten ist. Welchem Leser erschließt sich die Komplexität des Druckhandwerks, das in dieser Schrift gewürdigt werden soll? Zumal zu diesem Zeitpunkt vergleichbare Monographien über Druckwerkstätten wie Pat Gilmours Buch über Kenneth Tyler bereits vorlagen. Heute sind diejenigen Künstler und Wissenschaftler, die man in den 1970er Jahren gerade noch hätte fragen können, weil sie in der Werkstatt ein und aus spaziert sind, entweder längst verstorben oder wir haben zu dem, dass sie aufgeschrieben haben mehr Fragen als Antworten, wie im Fall von Paul Valérys Rede über das Druckhandwerk.

Als sich Jasper Johns 1996 erneut der Radierung zuwandte, richtete er sich nicht nur eine eigene Druckwerkstatt ein, sondern stellte zudem noch John Lund an, den besten amerikanischen Drucker für Radierung, den es in den USA gab. Museen wie das Worcester Art Museum beschäftigen die ehemaligen Drucker von Werkstätten wie Tamarind oder Gemini als Kuratoren und sorgen so dafür, dass deren Kenntnis um grafische Produktionsprozesse und deren spezifisches Wissen um die Eigenheit von Materialien Eingang in die Forschung finden. Was aber unternehmen wir, um unsere Kenntnisse von Druckprozessen auf die Höhe von Druckern zu heben oder uns in den Besitz des spezifischen Wissens von Materialien wie beispielsweise den Papieren von Scheufelein zu bringen? Das Wissen der Drucker, Künstlerbedarfshändler, Verleger grafischer Editionen oder Leiter von Produktentwicklungsabteilungen in Papier-, Bunt- oder Filzstiftfabriken wird bei der Erforschung von Materialien und künstlerischen Produktionsprozessen meist nicht eingebunden. Dabei bestand eine wichtige Funktion des Künstlers gerade auch in der Bündelung des Wissens um Materialien und Werkzeuge und die Forschungen von Daniela Bode, Mechthild Fend (zur Farbe), Norberto Gramaccini oder Robert Felfe (zur Reproduktionsgrafik) - um nur einige Beispiele zu nennen - zeigen, das die Beschäftigung mit Materialien und Materialdiskursen in der Kunstproduktion der Neuzeit theoretisch keineswegs anspruchslos sein muss.

 

(1) Vgl. Marie-Cécile Miessner, Céline Chicha, Lise Fauchereau: „L'estampe moderne et contemporaine à Bibliothèque Nationale de France: les enrichissements en 2007", in: Nouvelles de l'estampe 219. 3. 2008, p.7-20.

(2) 725 planches appartenant aux archives de l'atelier: bons à tirer, épreuves de décomposition, épreuves d'essai annotées par les graveurs.

(3) Das Atelier Lacourière Fréault oder 50 Jahre Stecherkunst und des Kupferstichdrucks. 1929-1979. Bochum 1980.

(4) Henri Matisse, Etchings, Aquatints and Linocuts including many rare proofs from the archives of the printer Lacourière. William Weston Gallery. Catalogue N° 4, 1993.

 

2 Comment(s)

  • Ad Stijnman
    09.06.2009 17:05

    Liebe Franziska Uhlig,

    Wie oben erwähnt gibt es schon mehrere Gruppen und Personen die sich mit Materialien und Techniken der Kunstproduktion (historisch und modern) beschäftigen. Meistens ist das aber im Bereich 'Conservation Science'. Es gibt nur wenige Kunsthistoriker(innen) die vertraut sind mit Grabstichel, Ölfarbe und Meissel und ihre Effekte auf die Aesthetik des Bildes. Das hat damit zu tun dass die kunstgeschichtliche Ausbildung seit Anfang des 20. Jhs. sich kaum kümmert um Material und Technik. Ihr Bericht ist aber Zeuge einer wachsenden Interesse der kunstgeschichtliche Forschung in der Zusammenhang zwischen Stil und Technik.

    Im Bereich der Manuskriptforschung, zum Beispiel, kann man nicht ohne Codicologie und ist die materielle Untersuchung der Objekten und ihre Zusammenhang mit den geschriebenen Texten völlig normal. Rezentes Beispiel: Libri sine asseribus : zur Einbandtechnik, Form und Inhalt mitteleuropäischen Koperte des 8. bis 14. Jahrhunderts / Agnes Scholla, Dissertation der Universität Leyden (Niederlande), 2002.

    Schon viele Jahre ist man interessiert in Farbe-Rezeptur, wie hier: Die Maltechnik des Codex Aureus aus Echternach : ein Meisterwerk im Wandel / Doris Oltrogge; Robert Fuchs. - Nürnberg : Verl. des Germanisches Nationalmuseums, 2009. - (Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums ; BD. 27)

    Vor einige Jahre (2005) organisierte das Courtauld Institut und die National Gallery in London ein Konferenz über Handel in Künstlermaterialien des 17. Jhs., die Proceedings werden Ende 2009 veröffentlicht: Trade in Artists’ Materials: Markets and Commerce in Europe to 1700 / ed. by Jo Kirby, Susan Nash and Joanna Cannon. - London, Archetype (forthcoming). Siehe: http://www.archetype.co.uk/, auch für ähnliche Ausgaben.

    Für moderne Künstlermaterialien gibt es die INCCA Gruppe: http://www.incca.org/.

    Die Ergebnisse derartiger Forschungen sind basal für das bessere Verständis der Zusammenhang zwischen Stil und Technik. Es kann z.B. Fragen beantworten über warum bestimmte Maler mit bestimmten Farben gearbeitet haben.

    Vom Kunsthistoriker wird eine gute Bibelkenntnis erwartet, zur besseren Verständnis der Ikonographie historischer Graphik, Gemälde und Bilder. Leider übt man sich nicht in Anatomie, Perspektive und Materialkenntnis, Themen ohne welche kein historischer Graphiker, Maler oder Bildhauer Meister werde könnte. Würde der Kunsthistoriker / die Kunsthistorikerin sich mit diesen, sowohl als mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen, und nicht nur theologischen, Aspekten der Arbeitsumstände der Künstler auskennen würde man die Kunstobjekte und ihre materielle und stilistische Merkmalen besser ergründen können.

    Hiermit ist nicht gesagt dass jeder Kunsthistoriker auch geübter Künstler sein soll, eher ist es ein Plädoyer mindestens einige Kursen Material und Technik mitzumachen. Einmal die Hände schmutzig gemacht gibt eine taktile Erfahrung die man von keinen Buch lernen kann.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Ad Stijnman

  • Ad Stijnman
    05.06.2009 06:54

    Lieber Jasper,

    Hier einen ersten Antwort, nur kurz wegen Zeitmangel.
    Für Kunst und Technik darf mal verweisen nach der internationalen ICOM-CC Arbeitsgruppe 'Art Technological Source Research' (Albert Pohlmann ist auch, wie ich, Beteiligter). Die Arbeitsgruppe bemüht sich mit materiellen Sachen hinsichtlich kultureller Objekten: http://www.clericus.org/atsr/.
    Ins besondere für die materielle Geschichte der graphischen Techniken fühle ich mich selbst verantwortlich und schreibe jetzt meine Dissertation 'A History of Etching and Engraving Techniques, 1400-2000', mit Verteidigung hoffentlich Mitte 2010 und Handelsedition nicht zu lange danach.

    Freundliche Grüße,
    Ad.

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