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Fragen an Cindy Sherman: Zu den Eigenheiten des ästhetischen Ekels
Warum empfinden wir Angst, wenn wir Filme wie Halloween – Die Nacht des Grauens (1978) oder Stephen Kings Es (1990) schauen? Warum haben wir Mitleid mit Tolstois Anna Karenina (1877/78) und warum ekeln wir uns vor einigen Bildern der Künstlerin Cindy Sherman? Wir wissen, doch, dass das alles gar nicht „echt“ ist, oder? Und doch empfinden wir fast täglich sogenannte ästhetische Emotionen und lassen uns offenbar gerne von Filmen, Büchern und Bildern täuschen, ent- und verführen, denn durch Kunst verursachte Emotionen sind ganz besondere Gefühle.
Die Fragen, warum wir emotional auf Kunstwerke reagieren und welche genuinen Eigenschaften ästhetische Emotionen auszeichnen, die also durch die Betrachtung von Kunst motiviert und verursacht werden, sind in den letzten Jahren zu neuer Prominenz gelangt. Dies ist vor allem auf neuere Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften zu diesem Thema zurückzuführen.[1]
Selten kommen in den thematischen interdisziplinären Debatten bildende Künstler:innen zu Wort, denn medial bleiben die wissenschaftlichen Verhandlungen zumeist auf Literatur und Filme beschränkt[2] und allzu oft ist das bearbeitete Emotionsspektrum auf Liebe und Angst eingegrenzt. In meinem Beitrag möchte ich diese Diskussionen auf die Frage nach der Besonderheit eines durch Kunst motivierten physischen Ekelgefühls ausweiten. Für eine Werkinterpretation boten sich dabei zahlreiche einflussreiche Künstler:innen und deren Oeuvres an. Die Entscheidung fiel aus gutem Grund auf Cindy Sherman, die nicht nur dezidiert Ekelgefühle bei Betrachtenden evozieren möchte und demnach Ekel als künstlerisches Kalkül einsetzt[3], sondern auch aufgrund einer Äußerung in einem Interview. Es ist die folgende Aussage der Künstlerin, der ein enormes interpretatorisches Potenzial innewohnt und das der Frage nach der Eigenart des Ekels als ästhetische Erfahrung fundamentale Einsichten beizusteuern vermag: “I wanted something visually offensive, but seductive, beautiful and textural as well, to suck you up and then repulse you”.[4] Und so werde ich in diesem Beitrag Schritt für Schritt versuchen, dieses Zitat von Sherman zu interpretieren, damit das Fragenfeld nach der Eigenart des ästhetischen Ekels abstecken und seine kategoriale Differenz zu anderen (nicht-ästhetischen) Emotionen skizzieren. Zunächst soll jedoch die Basisemotion des Ekels kurz charakterisiert werden, um vor diesem Hintergrund die kategoriale Eigenart dieses ästhetischen Gefühls herauszuarbeiten.
1. Was ist Ekel?
Sowohl der physische als auch der psychische oder moralische Ekel sind Gefühle der Distanz. Ein Gegenstand, eine Person oder eine Situation drängt sich bei einsetzender Abscheu dem sich ekelnden Subjekt ungewollt auf. Es kommt zu einer Grenzüberschreitung, die den physischen Ekel plötzlich und körperlich spürbar werden lässt. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist das Ekelgefühl ein Warn- und Schutzmechanismus, der uns vor Gefahren wie Ansteckung mit Krankheitserregern oder gar dem Tod bewahren soll.[5] Der Psychologe Paul Rozin beschrieb den körperlichen Ekel vor ungenießbaren Nahrungsmitteln als ein Phänomen, das bereits bei Kleinkindern zu beobachten ist. [6] Es ist daher davon auszugehen, dass zumindest der physische Ekel vor verdorbenen Früchten, Fleisch etc. ontogenetisch im Menschen verankert und damit kulturell ubiquitär ist. So gesehen kommt dieser Basisemotion eine Schutzfunktion zu, die uns davor bewahrt, Verdorbenes zu uns zu nehmen und unseren Körper mit Ungenießbarem oder gar Giftigem zu schädigen.
2. Drei Fragen an Cindy Sherman
Frage 1: Welche Sinne vermitteln den ästhetischen Ekel im Falle der bildenden Künste?
I wanted something visually offensive, but seductive, beautiful and textural as well, to suck you up and then repulse you. (Cindy Sherman)
„I wanted something visually offensive“ lautet der erste Teil von Shermans Interview-Aussage. Sie beabsichtigt also etwas visuell Anstößiges zu schaffen. Damit rekurriert Sherman auf die eingeschränkte Sinnlichkeit von zweidimensionaler, visueller Kunst.[7] Werke bspw. der Malerei und Fotografie sind fast ausschließlich visuell erfahrbar und erweisen sich so als sinnlich eher monokausale Ekelauslöser. Der Philosoph Aurel Kolnai arbeitete in seinem bis heute maßgebenden Aufsatz Der Ekel (EA 1929) fünf Quellen des physischen Ekels heraus, die sich über spezifische Sinnesorgane definieren und hierarchisieren lassen. “Hauptträger der Ekelempfindung”, so Kolnai, “sind der Geruchs-, der Gesichts- und der Tastsinn.”[8] Der Geschmackssinn geht physiologisch weitestgehend im Geruchssinn (retronasales Riechen) auf, weshalb er hier nicht gesondert aufgeführt ist.[9] Auditive oder akustische Reize sind hingegen selten eine Quelle von Ekel.[10] Als Ausnahmen können für den westlichen Kulturkreis lediglich Schmatzgeräusche, Rülpsen und ähnlich typische Ess- und Degustationslaute angeführt werden. Die drei erstgenannten Sinne, vermögen laut Kolnai allerdings nicht in gleicher Weise Ekel auszulösen. Der stärkste Sinn ist der Geruch, da “der obere Digestivtrakt am unmittelbarsten affiziert”[11] wird. Der physische Ekel wird demzufolge am stärksten durch Gestank verursacht und steht in engem Bezug zur Nahrungsaufnahme. Der Ekel gegenüber bitteren, verdorbenen oder anderweitig ungenießbaren Speisen ist geradezu eine anthropologische Konstante, da er bereits im Kleinkindalter nachgewiesen werden konnte und dementsprechend am stärksten ausgeprägt ist.[12] Der sogenannte “Sehekel”[13] weist gegenüber den anderen Sinnen eine Besonderheit auf, denn er leistet eine spezifische Form des Erkennens. Der Sehsinn wird bekanntlich von empiristischen Positionen als das primäre Instrument sinnlicher Erkenntnis und Evidenz angesehen, während der Geruchssinn und der Tastsinn ein tieferes Bild eines Gegenstandes vermitteln können, da sie nicht nur die Oberfläche erfassen: “Der Gesichtssinn [vermag, T.W.] ein unvergleichlich vielseitiges, umfassenderes, ‘konformeres’ Bild des Gegenstandes zu liefern[...]etwas ‘sehen’ heißt in ganz anderem Sinne es ‘kennen’, als etwas ‘riechen’ oder ‘tasten’ -, so führt andererseits ein Seheindruck, ein optisch einfacher Seheindruck, keineswegs derart in eine Wesensregion des Gegenstandes hinein wie ein Geruch oder eine Tastempfindung."[14] Der Sehsinn kann Informationen über Farben, Linien und Perspektiven etc. liefern und so einen Gegenstand in seiner Struktur und Modalität umfänglich vermitteln. Als Sinnesquelle, um bei Betrachtenden Ekelgefühle auszulösen, ist er jedoch dem Geruchssinn hierarchisch untergeordnet. Daher ist es schwieriger, Ekel allein durch visuelle Eindrücke zu motivieren. Der ästhetische Ekel ist aufgrund seiner sinnlichen Beschränkung in seiner (phänomenologischen) Empfindungsqualität weniger ausgeprägt, als der Ekel, der uns im Alltag beim Anblick von (echtem) verschimmeltem Obst oder verdorbenem Fleisch regelrecht überfällt, denn letzterer drängt sich im Gegensatz zu seinem kunstspezifischen Pendant durch eine multisensorische Erfahrung auf. Wird, wie im Falle von Cindy Shermans Fotografien, allein der Sehsinn angesprochen, benötigt es also eine Verstärkung, um einen fühlbaren ästhetischen Ekel bei Betrachtenden zu motivieren.
Frage 2: Warum kann Kunst überhaupt Ekel bei uns auslösen?
I wanted something visually offensive, but seductive, beautiful and textural as well, to suck you up and then repulse you. (Cindy Sherman)
Ein visueller Inhalt soll durch seine Schönheit und Texturierung gleichermaßen anstößig und verführerisch sein, so Sherman. Zeigt sich der ästhetische Ekel hier als ein gemischtes Gefühl, das gleichzeitig repulsiv und attraktiv wirkt? Dass von Kunst, die bei Betrachtenden Abscheu auslösen soll, ein besonderer Reiz ausgeht, weiß auch die Kunsthistorikerin Barbara Lange zu berichten, die retrospektiv ihre Rezeptionserfahrungen mit einer großformatigen Farbfotografie von Cindy Sherman (“Untitled” 1987-1990) schildert. Obwohl sie um eine gewisse sachliche Objektivität bemüht ist, kann sie ihren starken Eindruck nicht verbergen: “Als Betrachter/in fühlt man sich abgestoßen und angezogen zugleich: Der Oberflächenreiz der leuchtenden C-Print Farben übte eine optische Attraktion aus, der man sich nicht widersetzen konnte, um nur Sekundenbruchteile später im Realisieren des visuell Registrierten gewissermaßen brutal zurückgestoßen zu werden.”[15] Erst die Erkenntnis des Gesehenen lockt den Ekel hervor. Langes Erfahrungsbericht zeigt zudem, dass die Anziehung der Abstoßung zeitlich vorausgeht und damit nicht gleichzeitig auftritt. Die Repulsion löst die Anziehung ab. Von einem „gemischten Gefühl“[16], wie es Begriffe wie “Angstlust”[17] oder gar die “Ekellust”[18] nahelegen, handelt es sich beim ästhetischen Ekel nicht, da Lange klar zwischen Anziehung und Abstoßung unterscheidet und eine zeitliche Einordnung vornehmen kann.
Es stellt sich nun die Frage, warum uns Ekel in künstlerischer Form so anzieht? Warum gehen wir in Ausstellungen, um z. B. die “Disgust Pictures” (1986-1989) von Cindy Sherman zu sehen, obgleich wir möglicherweise schon vorher wissen, dass wir negativ berührt werden oder sogar, wie es mittlerweile gängige Ausstellungspraxis ist, durch Hinweisschilder vor dem Museumseingang darauf aufmerksam gemacht werden, dass empfindliche Besucher:innen die Ausstellung besser meiden sollten?[19] Niemand zwingt uns, die Ausstellung zu besuchen, und so liegt die Schlussfolgerung nahe, dass das Eklige in der Kunst uns anzieht und uns offenbar sogar Freude und Lust bereiten kann. Über die Motive, warum wir uns solchen Erfahrungen freiwillig aussetzen, wurde vielfach spekuliert. Die einflussreichsten Überlegungen dazu stammen vom Soziologen Norbert Elias und vom Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud. Beide sehen in der Suche nach besonderen Emotionen und starken Gefühlen, wie es der Ekel zweifellos ist, ein Kompensationsverhalten des Menschen. Der Soziologe Norbert Elias diagnostizierte dahingehend ein Leiden an einer öde gewordenen Welt. Der zivilisatorisch befriedete Raum soll Schutz für jedes Individuum in einer Gesellschaft bieten. Die Kehrseite dieser Errungenschaften bedeute hingegen, dass die eigenen Leidenschaften in Zaum gehalten, wie die „Wallung, die[…] zum körperlichen Angriff treibt“[20] unterdrückt werden müsse und Affekte im öffentlichen Raum kaum geduldet seien. Durch die Zivilisationsleistung der Schaffung gesellschaftlicher Regulierungsprozesse, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, sind wir nach Elias emotional verkümmert. Den zivilisierten Bürger:innen stünde es nicht mehr frei, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Ein selbstgeschaffener Kontrollapparat (wie Sitten und Gesetze) halten den Menschen in den gewünschten gesellschaftlichen Bahnen, so Elias.[21] Die Kunst dient nun als Füllmaterial für die drohende emotionale Leere. Was im 18. Jahrhundert die Lektüre von Ritterromanen und Literatur der „Schwarzen Romantik“ gewesen sei, ist heute wohl das Anschauen von Horrorfilmen, Bungeejumping von der Glasbrücke im Zhangjiajie Park oder der Besuch von Kulturinstitutionen.
Der Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud erklärte diesen gesellschaftlichen Kontrollapparat als eine der Ursachen unserer Neurosen und psychischen Gleichgewichtsstörungen. Das Leben in einer Gemeinschaft, mit all ihren Konventionen, Institutionen und Sanktionen sei eine Bürde, der wir uns nicht entziehen könnten. Dieses tägliche Tänzeln durch die Manege der Konventionen ist, so Freud, eine ungeheure Bürde für uns. Kultur als Konvolut von Regeln und Gesetzen sei uns eine Last. Doch besitzt die Ursache des Übels gleichfalls mögliche, wenn mitunter auch fragwürdige, Lösungen: Rauschmittel, Religion und Kunst müssen, laut Freud, als Kompensationswerkzeuge herhalten. Die erste Lösung betäubt. Die zweite stiftet Sinn oder betäubt, je nach Perspektive. Das dritte Narkotikum ist zwar das schwächste, aber das, worum es uns hier gehen soll. Kunst schafft Illusionen und Fiktionen gegen eine sich aufdrängende und unliebsame (physische) Realität, gleichwohl sie nicht stark genug ist, um uns reales Unglück tatsächlich vergessen zu lassen, notierte einst Freud.[22]
Kunst bewegt uns mental und emotional und ist daher eine Quelle, die uns die großen Emotionen zurückgeben kann, die wir verloren zu haben scheinen (Elias). Kunst, so Freud, lässt uns wiederum in eine Parallelwelt eintauchen, wodurch unser stetes Unbehagen in der Kultur suspendiert wird.
Kunst kann (negative) Empfindungen auslösen, die dadurch, dass sie künstlich herbeigeführt werden, für die Rezipient:innen zuweilen als lustvoll erfahren werden. Wir können uns in künstlichen und künstlerischen Szenarien ganz dem Ekelempfinden hingeben und den aufkommenden Schauder sogar genießen. Das Publikum kann sich gefahrlos einem solch lustvollen Ekelgefühl hingeben, in der Gewissheit, dass ihm nichts passieren kann. Warum aber suchen wir eher die großen negativen Gefühle wie Ekel und nicht die angenehm süßen?
Dass gerade negative Gefühle, wie Angst und Ekel, stärkere Empfindungen bei Rezipient:innen zu motivieren vermögen und deshalb besser als emotionale Kompensationswerkzeuge taugen, ist bereits eine grundlegende Einsicht in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik, da die “Phantasie viel mehr Bilder findet”[23], wenn sie mit negativen Emotionen konfrontiert wird. Negative Gefühle wirken stärker, da sie zusätzlich mit dem Eindruck der Gefahr verbunden sind. Aber droht uns wirklich Gefahr durch die Bilder von Cindy Sherman?
Frage 3: Was macht den ästhetischen Ekel so besonders?
I wanted something visually offensive, but seductive, beautiful and textural as well, to suck you up and then repulse you. (Cindy Sherman)
Ein Kunstwerk von Cindy Sherman soll uns laut ihrer Aussage “auf-“ oder „einsaugen” und wieder “abstoßen”. Interessant ist hier vor allem die Interpretation des Ausdrucks “suck you up”, der eine Verstärkung der Anziehung suggeriert. Was bewirkt dieses “Aufsaugen”? Mit einem passiven Aufsaugen geht ein aktives Eintauchen (Immersion) einher. Kunst ist geradezu prädestiniert für immersive Erfahrungen, weil sie uns einerseits in besonderer Weise anspricht, indem sie Vorstellungen, Assoziationen und Imaginationen beim Betrachten motiviert. Andererseits suchen wir mitunter ihre Nähe, um uns angeblich von den zivilisatorischen Bürden abzulenken, oder doch zumindest unsere Sehnsucht nach den großen Gefühlen durch sie zu stillen. Bilder der Kunst sind eben etwas Besonderes. In den seltensten Fällen geben sie nur etwas wieder, vielmehr stellen sehr viel häufiger etwas durch einen Bildinhalt dar, da sie künstlerische Interpretationen von mitunter realen Dingen sein können.[24] Ein “Bildobjekt (gleichbedeutend mit Bildinhalt, Anm. T. W.) ist ein Fiktum”[25], notierte einst der Phänomenologe Edmund Husserl und beschrieb damit bildliche Darstellungen als etwas physisch nicht Greifbares, was ihnen wiederum einen ontologischen Sonderstatus zuweist. Das Bildobjekt besitzt in dieser Hinsicht andere Eigenschaften als z. B. der Bildträger oder der Rahmen. Ein Bildobjekt, wie ein gemalter Mensch in der Genremalerei oder die fotografierten Objekte in einem Still Life werden nicht älter, sie sterben oder vergehen nicht, denn sie sind stets nur das, was durch den Bildträger als Darstellung sichtbar wird. Die Bildobjekte der Kunstbilder sind als Fiktionen immer das “Andere” der physikalischen Realität, weil sie nicht deren Naturgesetzen unterliegen.
Wir sollen, so lässt sich Shermans Aussage nun verstehen, in eine künstlerische, fiktionale Welt, im Sinne einer physikalisch nicht realen Wirklichkeit, „hineingesogen“ werden, die uns vielleicht ängstigt, anwidert, irritiert, auf jeden Fall aber anekelt. Wir sind angehalten, „stillschweigend einen Fiktionsvertrag“[26] mit Sherman einzugehen, wie Umberto Eco die Rezeptionserwartungen im Falle von fiktionaler Literatur beschrieb. Wir sollen uns von Sherman absichtlich kurz täuschen und regelrecht verführen lassen, um uns in unserer Rezeption, Kognition und Emotion für die Erfahrung des ästhetischen Ekels zu öffnen.
Durch den fiktionalen Gehalt ihrer Bilder droht uns durch den Ekel aber keine echte Gefahr. Der Ekel, den die Kunst bei den Betrachtenden hervorruft, wird zwar als realer Ekel empfunden, aber er läuft teilweise ins Leere. Er ist ein Alarmsignal, das uns nur vor einer eingebildeten (fiktiven) Gefahr warnt. Der ästhetische Ekel ist deshalb aus evolutionsbiologischer Perspektive dysfunktional, weil wir gerade keinen Warn- und Schutzmechanismus brauchen, wenn wir Bilder von Cindy Sherman betrachten, obwohl sie vielschichtig, eindringlich und nachhaltig auf uns wirken.
3. Fazit
Der ästhetische Ekel unterscheidet sich von nicht-ästhetischen Formen dadurch, dass er einerseits Abscheu in uns hervorruft und uns damit zu einer emotionstypischen Distanz veranlasst, ihm aber andererseits ein wohliger Schauder folgen kann. Wir suchen geradezu nach emotionalen Negativerfahrungen, wie dem ästhetischen Ekel in den Bildern Cindy Shermans, da wir uns laut Norbert Elias unterhalten und lebendig fühlen wollen und nach Sigmund Freud uns gern emotional ver- und entführen lassen. Das gewollte Unwohlsein kann lustvoll sein, denn irgendwie wissen wir wohl, dass von den Bildobjekten keine wirkliche Gefahr ausgeht, der ästhetische Ekel also keine Schutzfunktion hat. Insofern unterscheidet er sich dadurch kategorial von nicht kunstspezifischen Formen des Ekels und ist damit ein einzigartiges Gefühl.
Tobias Weilandt studierte Kulturwissenschaften, Jura und Philosophie an den Universitäten Frankfurt (Oder), Malmö und Marburg. Schwerpunktmäßig untersucht er aus einer philosophischen Perspektive Fragestellungen aus den Gebieten der Bildwissenschaft (u. a. Visuelle Philosophie) und der Emotionsforschung (vor allem Formen des Ekels in Alltagspraktiken). Webseite: www.tobias-weilandt.de
[1] Vgl. u. a. Vendrell-Ferran, Ingrid: Das Paradoxon der Fiktion, in: Tobias Klauk und Tilmann Köppe (Hrsg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin: 2014, S. 313-337.
[2] Vgl. u. a. Wiesing, Lambert: Von der Fiktionalität der Bilder zur Illusion der digitalen Fotografie, in: Frauke Berndt und Jan-Noël Thon (Hrsg.): Bildmedien. Materialität - Semiotik - Ästhetik, Berlin: 2022, S. 135-145. Hier: S. 135. Zu den unterschiedlichen Positionen der Debatte, siehe u. a. Reicher, Maria E. (Hrsg.): Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie, Münster: 2016.
[3] Vgl. u. a.: Ingelfinger, Antonia: Ekel als künstlerische Strategie im ausgehenden 20. Jahrhundert am Beispiel von Cindy Shermans “Disgust Pictures”, Freiburg 2010.
[4] Sherman, Cindy zitiert nach Calvin Tomkins: Her secret identities, in: The New Yorker. May 8th, 2000. S. 81.
[5] Vgl. Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 2002. S. 30.
[6] Vgl. Rozin, Paul und April E. Fallon: A perspective on disgust, in: Psychological Review 91.1, 1987. S. 23-41.
[7] Wenn ich im Folgenden von „Bildern“ oder „Kunstwerken“ schreibe, meine ich damit zweidimensionale Kunstmedien, die etwas Ekelhaftes konkret oder naturalistisch darstellen.
[8] Kolnai, 2007. S. 24.
[9] Siehe hierzu bspw. Ganong, William F.: Geruchs- und Geschmackssinn, in: Lehrbuch der medizinischen Physiologie Berlin, Heidelberg: 1974, S. 140-146.
[10] Vgl. ebd.
[11] a.a.O., S. 26.
[12] Vgl. z. B. Rozin, Paul und April E. Fallon: 1987. S. 23-41.
[13] ebd.
[14] a.a.O., S. 27f.
[15] Lange, Barbara: Ekel als Bild. Körpererfahrung und Imagination in Kunstpraxis und Kunstgeschichte, in: Ernst Seidl und Philipp Aumann (Hrsg.): KörperWissen. Erkenntnis zwischen Eros und Ekel, Tübingen: 2009, S. 138-147. Hier: S. 138.
[16] Frevert, Ute und Christoph Wulf: Die Bildung der Gefühle, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften 15. 2012, S. 1-10. Hier: S. 6.
[17] Balint, Michael: Angstlust und Regression. Stuttgart 2007. S. 33.
[18] U. a.: Krebs, Julius: Ekellust, in: Karl Markus Michel, Ingrid Karsunke und Tilman Spengler (Hrsg.): Ekel und Allergie. Kursbuch 129. Berlin: September 2007, S. 88-99.
[19] Vgl. Reiß, Claudia: Ekel. Ikonografie des Ausgeschlossenen, Duisburg/ Essen 2007. S. 11.
[20] Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Zweiter Band Frankfurt am Main 1982. S. 321.
[21] Vgl. a. a. O., S. 330.
[22] Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: Ilse Gubrich-Simitis (Hrsg.): Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt: 2009, S. 29-108. Hier: S. 42-51.
[23] Paul, Jean: Vorschule der Ästhetik. 1804. §23.
[24] Vgl. u. a.: Scholz, Oliver: Abbilder und Entwürfe. Bilder und die Strukturen der menschlichen Intentionalität, in: Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.): Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt: 2009, S. 146-162. Hier: S. 157.
[25] Husserl, Edmund: Zur Lehre vom Bildbewusstsein und Fiktumbewusstsein (1912), in: Eduard Marbach (Hrsg.): Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung: Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1898–1925), Husserliana. Bd. 23, Marbach, Den Haag: 1980, S. 486–494. Hier S. 490.
[26] Eco, Umberto: Mögliche Wälder, in: Im Wald der Fiktionen, München, Wien: 1994, S. 101-127. Hier: S. 103.
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