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Brauchen wir eine Bildwissenschaft 2.0 für das digitale Bild?

Was war Bildwissenschaft 1.0?

Die Kunstgeschichte beschäftigt sich im Kern mit der Erforschung der Entwicklungsgeschichte von Kunst aller Medien, wie sie beispielsweise in der Stilgeschichte methodisch-systematisch vorgenommen wurde (Wölfflin), sowie der Bedeutungsrekonstruktion und Einbettung des Einzelwerks in seinen kulturhistorischen Zusammenhang (Panofsky). Über den Kernbereich des ohnehin unscharf umrissenen Kunstbegriffs hinaus hat sich das Fach seit langem mit allgemeinen Fragen auch des nicht-künstlerischen Bildes befasst (vgl. Bredekamp). Mit dem Einfluss der Visual Culture Studies, der Herausforderungen der Bilderflut und des sog. Iconic Turns (Mitchell, Boehm) hat sich das Fach gezielt zu einer Bildwissenschaft erweitert. Daraus folgte einerseits eine Modernisierung des Faches, indem ein von Aby Warburg begonnener Weg wiederaufgenommen wurde, andererseits führte diese Erweiterung zu einer solche Vielzahl an Untersuchungen, die kaum noch unter einem einzigen Bildbegriff zusammengefasst werden können.

Fragte Gottfried Boehm 1994 „Was ist ein Bild?“, so meinte er einerseits eine allgemeine Ontologie des Bildes, forderte andererseits aber auch eine methodische Herangehensweise an das vorherrschende elektronische Bildmedium seiner Zeit. Insbesondere wurde das Bild als zentrales Erkenntnismedium ins Zentrum gerückt, das mit der Bilderflut eine zunehmende Bedeutung erfährt. Die daraus resultierenden verschiedenen Teilbereiche der entstehenden Bildwissenschaft(en), beispielsweise Forschungsgruppen wie das Graduiertenkolleg „Bild. Körper. Medium“ in Karlsruhe oder der NFS „Bildkritik“ in Basel, haben sich diesen Fragen umfangreich gestellt und zu einem Verständnis des Bildes viel beigetragen

Warum eine Bildwissenschaft 2.0?

Heute, so scheint es, ist die Revolutionierung der Bildmedien durch das Digitale seit dem Siegeszug des Internets (seit 1995), der Sozialen Medien (seit 2004) und mobiler Endgeräte (seit 2007) sowie innovativer Bildtechnologien (VR/AR, AI etc.) kaum diskutiert. Neben vereinzelten Untersuchungen steht eine systematische Herangehensweise noch aus. Die der elektronischen Bilderflut der 1980/90er Jahre folgende digitale Bilderflut, die spätestens mit dem Erscheinen mobiler und vernetzter Smartphone-Kameras und Sozialer Medien einsetzte, erfordert eine „Bildwissenschaft 2.0“, die sowohl auf den bildtheoretischen Vorarbeiten der Bildwissenschaft der vergangenen 24 Jahre, wie auch auf den kunsthistorischen Erkenntnissen der universitären Kunstwissenschaft der letzten 150 Jahre aufbaut und in einem interdisziplinären Verbund ontologische und epistemische Fragen zum digitalen Bild untersucht. Heute sollte die Grundfrage also lauten: „ Was ist ein digitales Bild?“

Um diesen Bildbegriff greifbar zu machen, ist es sinnvoll, die Dualität von Bild und Medium um die Komponenten
(1) Daten, die durch ein
(2) Mediensystem zu einem
(3) visuellen Phänomen ausvisualisiert werden
zu ersetzten (Klinke). Letzteres ist, was durch den menschlichen Sehapparat bis zum visuellen Cortex wahrgenommen und aufgrund voriger Seherfahrungen verstanden wird. Aufgrund dieser Aufteilung kann die Frage nach dem „Bild“ an verschiedenen Punkten angegangen werden. So hat die Kunstgeschichte immer wieder auf eine für die Kunst entscheidende Entwicklung der Bildmedien hingewiesen, die Produktion, Distribution und Rezeption von Bildern maßgeblich beeinflusste. Hier wurde stets auf eine allgemeine, meist technische Geschichte der Medien (Kittler) Bezug genommen, jedoch mit einem Schwerpunkt auf den visuellen Medien und deren Auswirkungen auf die visuelle Kommunikation von inneren Bildern. Ebenso wurde von der Kunstgeschichte das Verhältnis von Künstler, Bild, Referenz und Betrachter in vielfacher Weise reflektiert. Dabei wurde häufig auf die Zeichentheorie (Saussure, Peirce) oder die Gestaltpsychologie aufgebaut und das visuelle Denken (Arnheim) sowie die zentrale Rolle des Menschen (Belting) in den Mittelpunkt gestellt. Diese Beispiele machen deutlich, welche Rolle die Kunstgeschichte in Fragen nach dem Bild spielen kann und welches Verhältnis sie zu andern Fächern wie der Medienwissenschaft oder Psychologie einnimmt.

Analog dazu lässt sich die Herangehensweise an das digitale Bild darstellen. So kann die Kunstgeschichte beispielsweise auf ihre umfangreiche Beschäftigung mit den paradigmatischen Veränderungen, die die Erfindung der Fotografie nach sich zog, mit der Kunsttheorie sowie der Geschichte und Theorie der Fotografie aufbauen (Kemp/Amelunxen), um einen Rahmen für die Herangehensweise an die gegenwärtigen Entwicklungen des digitalen Bildes zu entwerfen. Hier lassen sich historische Genealogien und Brüche aufzeigen, wie beispielsweise der Dualismus zwischen den unsichtbaren Daten und dem sichtbaren Bildphänomen, das seine Vorläufer bereits im latenten Bild der Fotografie findet. Die Bedeutung der Be- und Verrechenbarkeit der Bilddaten, die „algorithmischen Revolution“ hat die Kunstgeschichte in ihrer Beschäftigung mit der Medienkunst erkannt (Weibel). Hierbei wird deutlich, wie Datenvisualisierungen und Bildgenese funktionieren. Eine Zusammenarbeit beispielsweise mit den Computer Graphics ist zu diesem Themenbereich sinnvoll. Zwar haben diese weniger Interesse an einer historischen Erforschung als vielmehr an der Weiterentwicklung computergenerierter Bilder, mit der sich auch die Möglichkeiten des Bildes und seine Bedeutungsproduktion erweitern. Eine damit verbundene Theorie und Historiographie kann aber eine Grundlage bilden, um auch technische Herausforderungen systematisch anzugehen.

Folgt man dem dreiteiligen Bildschema (Daten, Mediensystem, visuellen Phänomen) weiter hin zur Bildrezeption, wird deutlich, welches Potential die Kunstgeschichte mitbringt, wenn die Rezeptionsästhetik oder Panofskys Ikonographie und Ikonologie als visuelle Erkenntnistheorie aufgefasst werden, die den Seh- und Erkenntnisprozess beschreiben. Mit ähnlichen Fragen beschäftigt sich seit langem nicht nur die Psychologie und Hirnforschung, die den Prozess verstehen will, sondern auch die Computer Vision, die ihn nachbilden möchte, um beispielswiese autonomen Robotern die Orientierung im Raum zu ermöglichen. Die Notwendigkeit interdisziplinärer Erforschung, die sich damit beschäftigt, wie sich aus dem Datenstrom einer Kamera Inhalte erschließen, liegt vermutlich nirgendwo deutlicher auf der Hand.

Warum interdisziplinär?

Jedes Fach hat seine eigenen Forschungsziele, Methoden und Wissenschaftskulturen. Und jedes Fach hat seine speziellen Kernkompetenzen, die es in einen interdisziplinäreren Diskurs einbringen kann. In den Bereichen, in denen gemeinsame Forschungsziele bestehen, überlappen sich die Interessen der Fächer in fachübergreifenden Projekten. Eines dieser Forschungsziele kann die Erforschung des digitalen Bildes sein. In ein solches Projekt bringt sich jedes Fach optimalerweise mit seinen Alleinstellungsmerkmalen ein und holt daraus etwas heraus, was auf den internen Fachdiskurs zurückwirkt. So hat die Kunstgeschichte Forschungsziele, die ihren Kern ausmachen: Datierung, Handscheidungen, Stilgeschichte etc. Gleichzeitig bringt sie ihre theoretische und historische Erfahrung mit dem Bild (Bildkompetenz) in die fachübergreifende Forschung ein. Der Kunstgeschichte fehlt jedoch meist die praktische Erfahrung mit dem digitalen Bild.

Die noch vergleichsweise junge Disziplin Informatik interessiert sich dagegen beispielsweise für die Verwirklichung von Systemen, die realistischere Effekte für Gaming Plattformen ermöglichen, Echtzeitrenderings in Videobildern, verbesserte Mustererkennung etc., die für den Fachdiskurs von Bedeutung sind. Die Informatik hat durch diesen Ingenieursprozess eine umfangeiche Erfahrung mit dem digitalen Bild – ihr fehlt jedoch eine theoretische und historische Rahmung.

Gemeinsame Projekte gestalten sich also in einem Austausch. Bereits in der Definitionsphase eines Projektes lässt sich beobachten, dass es der Informatik häufig an der reflektierten Begrifflichkeit mangelt, wenn sie etwa von „Bild“, „Realismus“ oder dem „Sehen“ sprechen. Hier kann die Kunstgeschichte bereits zu einer präziseren Wortwahl und folglich zu einer differenzierteren Fragestellung beitragen. Umgekehrt fehlt der kunsthistorischen Forschungen häufig das Vokabular, um technische Gegebenheiten beschreiben und analysieren zu können. Hier kann die Informatik im Austausch Projektdefinitionen in ihrer technischen Ausgestaltung konkretisieren.

Wie sich an der Schnittstelle von Kunstgeschichte und Informatik neue, für beide Seiten interessante Lösungen entstehen, konnte im vergangenen Jahr während des interdisziplinären Hackathons Coding Dürer beobachtet werden. Hier arbeiteten Kunsthistoriker und Informatiker gemeinsam mit kunsthistorischen Daten. Die einen kannten die Fragestellungen, die anderen die technischen Lösungen. Die einen kannten die Daten, die anderen beherrschten die Datenanalyse. Alle Teilnehmer bescheinigten, dass die Ergebnisse ohne die jeweils andere Seite nicht möglich gewesen wären und weit darüber hinausgingen, was jeder Einzelne erwartet hatte.

Das digitale Bild ist eine Herausforderung, der vor allem interdisziplinär begegnet werden muss. Das DFG-Schwerpunktprogramm „Das digitale Bild“ bietet nun erstmals die Möglichkeit, einen Forschungsverbund zu begründen, der sich ortsübergreifend koordiniert und fachübergreifend organisiert. Dies führt nicht nur zu der Chance, das Phänomen „digitales Bild“ in seiner Genese und Entwicklung besser zu verstehen, sondern auch, die Kompetenzen der Kunstgeschichte in einem zeitgenössischen Diskurs zu stärken.

In short: The digital image necessitates a second wave of Visual Studies with interdisciplinarity at its core.

 

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