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"Det is det Lebens janzer Zweck: Een scheenen Dod zu schterben" - Der Schriftsteller und Redakteur Leo Heller (1876 Wien – 1941 Prag)

Ein Gastbeitrag von Bettina Müller (Köln) für das Themenportal Caricature & Comic

Das makaber anmutende Zitat aus der Überschrift stammt aus Leo Hellers Gedicht „Der Jas“, das 1930 in der Zeitschrift "Der Wahre Jakob" erschien und sich mit dem Tabuthema Selbstmord befasste. Der tiefschwarze Humor, der darin ganz verstärkt zutage trat, war zu dieser Zeit typisch für Hellers Gedichte, ebenso die Beschäftigung mit Tabuthemen. Die Stadt Berlin, die Leo Heller auf seinen investigativen Streifzügen zumeist durch den Berliner Norden sah, war Anfang der 1920er Jahre vor allem stark geprägt durch die äußerst prekären wirtschaftlichen Schwierigkeiten aufgrund der Reparationszahlungen an die Alliierten infolge des verlorenen 1. Weltkriegs. 1922 starben allein in Berlin 7.674 Personen an Erkältungskrankheiten, die Tuberkuloserate war stark erhöht, von September bis Dezember 1922 begingen 502 Menschen Selbstmord. Das Berlin der Inflationszeit in der Weimarer Republik war zudem geprägt von Kinderelend, Kriminalität und Prostitution etc.

Man könnte nun vermuten, dass Leo Heller der Berliner Jargon in die Wiege gelegt worden war, so perfekt hatte er ihn darin und in vielen anderen Werken verinnerlicht und wiedergegeben. Leo Heller wurde jedoch in Wien geboren, am 18.3.1876 kam er dort als Sohn des jüdischen Fabrikanten Sigismund (Richard) Heller und dessen Ehefrau Ida geb. Winternitz zur Welt. Zwei Jahre später, am 28.4.1880, folgte Schwester Ellen. Heller verbrachte Kindheit und Jugend im böhmischen Teplitz-Schönau, ging kurze Zeit auf die Aussiger Handelsschule, musste die Schule jedoch vorzeitig „wegen des Besuchs eines verpönten Lokals“ verlassen. Es folgten sehr unerfreuliche Jahre für ihn, der Vater wünschte, dass er die Prager Handelsakademie besuchte, damit er Beamter werde. Nach vier Jahren als Beamter der k.+k. priv. Böh. Union-Bank war sein eigentlicher und nicht fremdbestimmter Berufswunsch Schriftsteller letzten Endes zu übermächtig. Er schaffte den Absprung zum Journalismus. Als Redakteur beim Deutschen Abendblatt in Prag berichtete er als Lokalkritiker vor allem über Ballfeste und Leichenbegängnisse u.ä., erwarb sich dann langsam den Respekt seines Chefredakteurs und durfte schließlich auch über Mordfälle berichten und humoristische Wochenplaudereien schreiben, stellte damit bereits seine Weichen für seine spätere Tätigkeit in Berlin als „bestinformierter Schilderer der Berliner Unterwelt“. Hinzu kamen seine lyrischen Werke, naturalistischer bis humoristischer Art, sowie den Volksliedhaften (für die er eine besondere Begabung besaß). Ernst von Wolzogen, der spätere Förderer Hellers, wurde auf den jungen Dichter aufmerksam und konnte ihn für sein Berliner Kabarett-Projekt „Überbrettl“ begeistern, für das Heller dann als Textautor tätig wurde. 1901 schließlich siedelte er ganz nach Berlin um.

Leo Heller war nicht nur Schriftsteller, Lyriker und Journalist (mit den Schwerpunkten Feuilleton und Theater-Kritik), sondern auch Drehbuch- und Hörspielautor (Abb. 5), Bühnentexter, Verfasser von musikalischen Lustspielen, Schwänken, Volksstücken und Chansons. Er war der Autor von unzähligen Gedichten, die in etlichen einschlägigen Literatur-, Satire- und Kunstzeitschriften nachgewiesen sind, so z.B. in: Arena; Das Blaubuch (Wochenschrift für öffentl. Leben, Literatur und Kunst); Das kleine Witzblatt; Der Czardas (Zeitschrift für Kunst und Literatur); Der liebe Augustin (Wiener phantastisch satirische Zeitschrift); Der Satyr; Die Bergstadt (Illustrierte Monatsblätter); Deutsche Romanzeitung; Die Lichtung; Fliegende Blätter; Frühling (Halbmonatsschrift für neudeutsche Dichtung und Kultur); Die Hilfe (Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und geistige Bewegung); Jugend (Illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben); Königsberger Hartungsche Zeitung; Literarische Flugblätter (Lyrik und Kritiken, Hrsg. Viktor Joß); Meggendorfer Blätter; Merker (Österreichische Zeitschrift für Musik und Theater); Der Orkan; ULK (Unsinn, Leichtsinn, Kneipsinn, wöchentliche Beilage des Berliner Tageblatts); Über Land und Meer (Hrsg. von Rudolf Presber); Wir leben (Monatsschrift zur Pflege schöngeistiger und künstlerischer Bestrebungen).
Vor allem in den 1920er Jahren sollte Leo Heller dann aber einer der wichtigsten Chronisten der Berliner Unterwelt der Weimarer Republik werden. Bereits um 1914 lassen sich etliche Feuilletonbeiträge (z.B. im Neuen Wiener Journal) nachweisen, die sich mit dem Thema „Verbrechen in Berlin“ befassten. Dabei stand für Heller jedoch zunächst immer der Mensch im Mittelpunkt und nicht „der Verbrecher“, der für ihn einen Anspruch darauf hatte, als Person wahrgenommen zu werden. Von vielen als „Sumpf“ bezeichnet, war die Gesellschaft der Verbrecher für Heller genau das Gegenteil: „Ich aber habe in diesem ‚Sumpf’ die echte und unverbrüchliche Treue und Freundschaft des Verbrechers und die Herzensgüte der Dirne kennengelernt. […] um zu zeigen, daß sie auch Menschen mit den gleichen Gefühlen und Empfindungen wie der ehrenwerte Staatsbürger sind.“ Leo Heller war mit der Berichterstattung, für viele damals sicher ein Tabuthema, dem sie mit Abscheu begegneten, seiner Zeit weit voraus. Sie begann – aus einer intrinsischen Motivation heraus mit ehrlichem Mitleid und Empathie – auch als künstlerische literarische Umsetzung seitens eines angeblichen Mitglieds der Berliner Bohème als Teil der damaligen Kabarettszene, und entwickelte sich für ihn dann im Folgenden zu einer echten Berufung, einer Sucht. Im Zuge der Stabilisierung von Wirtschaft und Politik der Weimarer Republik versuchte man, dem Verbrecher nicht zuletzt auch seinen Schrecken zu nehmen. Es wurde „schick“, sich durch Kaschemmen (Verbrecherkneipen) führen zu lassen, und der Verbrecher hielt in den 1920er Jahren verstärkt Einzug in die Medien, z.B. in Theaterstücken, im Film, aber auch in Form des „Apachentanzes“. Der „Apachentanz“ (Apache = Großstadtganove) war, wie das literarische Kabarett, keine deutsche Erfindung, und hatte seine Herkunft, wie das literarische Kabarett, ebenfalls auf dem Montmartre. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jhts. schwappte der Trend von Frankreich nach Deutschland über, wobei der künstlerische Ausdruckstanz jedoch nicht immer auf Verständnis oder Akzeptanz stieß und sehr häufig der Zensur zum Opfer fiel. Bereits 1912 beklagte die Zeitschrift „Wiener Caricaturen“ eine grundsätzliche „Verwilderung der Tänze“ (und gab zusätzlich noch einen Einblick in die damalige Denkweise anderen Kulturen gegenüber): „Nach dem Bären- und Apachentanz ist jetzt der exotische Marabutanz aus Paris importiert worden und ihm folgte ein Tanz, den einige Niggerakrobaten in den Londoner Salons eingebürgert haben und der das non plus ultra an Ungeniertheit darstellt. Er heißt ‚Wüstentanz’ und man wird folgerichtig jeden, der ihn exekutiert ‚Wüstling’ nennen dürfen.“ Dennoch hielten die Medien an der sehr konstruierten Vorstellung des „feurigen wilden Kerls“ fest, dessen „kühne Verwegenheit sich beim Anblick der schönen Frau in gute, geläuterte Regungen umsetzt.“

Hellers Berichterstattung über die Schattenseiten des Großstadtlebens könnte man als eine literarische Weiterentwicklung der u.a. von Hans Ostwald initiierten Kategorie „Rinnsteinlieder“ und anderer Kabaretttexte bezeichnen, die aus der Not heraus geboren wurden und „eine naturnotwendige Folge der unser Zeitalter erschütternden Probleme“ waren. Heller war derjenige, der die meisten „Dirnenlieder“ geschrieben hat, insgesamt waren es über 40, zumeist durch einen volksliedhaften Ton charakterisiert, zunächst eher durch Hoffnungslosigkeit und Melancholie gekennzeichnet und somit humorfrei („Lang hat sie sich die Füße wund gelaufen,/Von hundert Schwellen weist man sie zurück,/Der Abend kommt. Nun will sie sich verkaufen./Warum auch nicht! Die Andern haben Glück./Sie denkt dabei nicht ihrer alten Fetzen,/Nur an ihr Leben denkt sie wie im Traum./Sie ist noch jung; die Zeit, sich zu ergötzen,/Liegt noch vor ihr. Ein unermessner Raum./Jetzt hungert sie … Den einen oder andern,/Wird sie wohl finden, der sie heim begehrt,/“Man muß nur langsam durch die Straßen wandern/Und lächeln“, hat die Freundin sie belehrt./Sie lächelt … Und schon sieht sie dreiste Blicke/Auf sich gerichtet, wie auf ein Stück Vieh./Sie schrickt zusammen. Nahe liegt die Brücke./Dort winkt man ihr und dort verschwindet sie.“ Gedicht „Tiefe Dämmerung“, das zu den frühen Dirnenliedern Hellers zählen dürfte). Vor allem am Anfang der 1920er Jahren änderte sich der Tenor auch in diesem Bereich, der tiefschwarze Humor reduzierte z.B. die Dirnen immer seltener auf die Rolle des reinen Opfers und verlieh ihnen stattdessen eine selbstbestimmte Persönlichkeit, ohne sie moralisch zu verurteilen.

Während Leo Heller sich mit den Schattenseiten der Großstadt vor allem des Berliner Nordens befasste, auf Streifzüge durch die Kaschemmen ging und die Berliner Polizei auch bei Razzien begleiten durfte, verkehrte seine Ehefrau in ihrem Berufsleben in einer völlig anderen Welt. Am 6. Mai 1906 hatte Leo Heller in Berlin die zehn Jahre ältere und seit dem 9. Februar 1906 geschiedene Putzmacherin Regina Friedländer geb. Oppler geheiratet, die sich langsam aber stetig in Berlin einen Namen als Hutmacherin gemacht hatte. Anfangs als „Elegantester Damenputz“ in der Budapester Str. 2 (1917) sollte ihr „Salon Regina Friedländer“ der bekannteste Berlins für die zahlungskräftigen Damen der Berliner Gesellschaft werden. Es ist auffällig, dass Regina Heller den Namen ihres ersten Ehemannes trotz Scheidung behielt. Der traditionelle und typisch jüdische Name „Friedländer“ verlieh ihr nicht zuletzt auch eine jüdische Identität im Wirtschaftsleben, an der die jüdische Bevölkerung Berlins einen großen Anteil hatte. Viele der damals bekannten Modejournalistinnen waren ebenfalls jüdischen Glaubens (Ola Alsen, die Kollegin Hellers beim 8 Uhr-Abendblatt, sowie Julie Elias, Ruth Goetz, Elsa Herzog, Johanna Thal) und hatten großen Einfluss auf Geschmack und Kaufverhalten der stilbewussten Berlinerinnen.
Regina Friedländers extravagante und exklusive Hutmodelle und Haute Couture finden sich in vielen Modemagazinen der damaligen Zeit wieder, so machte z.B. die Zeitschrift „Berliner Leben" regelmäßig Werbung für den Salon Friedländer und druckte die neuesten Kreationen ihrer Hutmodelle ab. Ebenso finden sich ihre Kreationen in den Modezeitschriften „Die Dame“, „Styl“, „Elegante Welt“ etc. wieder.

Seit 1917 arbeitete Leo Heller als Feuilleton-Redakteur beim Berliner 8 Uhr-Abendblatt und wurde zwischen 1920 und 1927 (Co-)Autor von insgesamt zwölf Filmen, in denen er seinen gewohnten Sujets Großstadtkriminalität/Dirnen treu blieb, darunter z.B. „Tragödie eines Entgleisten“ mit Hans Albers und Anita Berber. Die vielfältigen beruflichen Kontakte ihres Ehemanns auch zur Filmwelt konnte Regina Heller sicherlich auch zu ihrem geschäftlichen Vorteil nutzen. Als Beispiel sei hier kurz der Kontakt Hellers zu dem österreichischen Komponisten Franz Léhar angemerkt, der mit seiner Operette „Frasquita“, die am 18.2.1924 im Berliner Thalia-Theater uraufgeführt wurde, wahre Begeisterungsstürme im Publikum und in der Presse auslöste. Für einen der Hauptakteure, dem Star-Tenor Hermann Jedlowker, hatte Regina Friedländer die Hüte entworfen.

Ein Foto, das Regina Heller zusammen mit Anita Berber zeigt, kann auf dieser Seite eingesehen werden: getty images

Ein Jahr nach dem Tod seiner Frau Regina, die am 7.3.1932 in Berlin gestorben war und am 10.3. auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee bestattet wurde, verließ Heller die Stadt und kehrte nach Teplitz-Schönau zurück. Im Berliner Adressbuch von 1934 ist er nicht mehr verzeichnet. Am 30. Januar 1941 verstarb er an Nierenentzündung in Prag. Noch im selben Jahr begannen die Deportationen aus Prag in das Konzentrationslager Theresienstadt. In einem der Transporte fuhr seine Schwester Ellen Heller dem Tod entgegen, sie starb dort am 23.8.1942 (angeblich) an Lungenentzündung. Leo Heller war bereits 1907 aus dem Judentum ausgetreten.
Leo Heller hinterließ ein sehr umfangreiches literarisches Werk, das sich durch eine bemerkenswerte Entwicklung auszeichnet: vom ernsten Lyriker hin zum Journalisten, der sich mit Ganoven und Dirnen anfreundete und ihre Geschichten ohne Scheu und Vorbehalte festhielt.

Bibliographie (Auswahl: Leo Hellers Werke über die Berliner Unterwelt)

• Aus Pennen und Kaschemmen. Lieder aus dem Norden Berlins. Berlin 1921.
• Berlin, Berlin, wat macht et? Mit eenem Ooge weent et, mit eenem Ooge lacht et. Neue Lieder aus dem Berliner Norden. Berlin 1922.
• Polente, Ganoven und ich! Bilder aus dem gestrigen und heutigen Berlin (Arena-Bücherei, 6). Dresden 1923.
• Aus Ecken und Winkeln. Düstere und heitere Großstadtbilder (Arena-Bücherei, 8). Dresden 1924.
• Rund um den Alex. Bilder und Skizzen aus dem Berliner Polizei- und Verbrecherleben (Phönix-Verlag, Detektiv-Romane, Bd. 6). Berlin 1924.
• (Mit Ernst Engelbrecht) Verbrecher. Bilder und Skizzen aus dem Berliner Polizei- und Verbrecherleben. Neu-Finkenkrug bei Berlin 1924.
• (Mit Ernst Engelbrecht) Berliner Razzien. Neu-Finkenkrug bei Berlin 1924 (2. Aufl.).
• (Mit Ernst Engelbrecht) Die Kinder der Nacht: Bilder aus dem Verbrecherleben. Neu-Finkenkrug bei Berlin 1926.
• Hände hoch! Breslau 1926.
• So siehste aus ‒ Berlin! : Skizzen und Bilder aus Berlin von heute. München 1927.
• Auf der Revierwache. Berlin 1927 [unbekannter Verlag].
• [als Hrsg.:] Mein interessantester Fall. Aus den Erlebnissen Berliner Kriminal-kommissare (Das Buch der Kriminalkommissare). Berlin 1927.
• Der Liebesrentner. Lebensroman eines Berliner Zuhälters. Berlin o.J. (um 1932).
• Die Ritter vom grünen Tisch (Enthüllungen eines Croupiers); enthalten in „Der Liebesrentner“, S. 189‒254.

Weblinks


Anmerkung: Dieser Blogbeitrag ist eine Kurzfassung des Aufsatzes „Leo Heller (1876‒1941): Der bestinformierte Schilderer der Berliner Unterwelt“ von Bettina Müller (Köln), der Quellenangaben und eine ausführliche Bibliographie enthält.

Bettina Müller (Köln): b-mueller-koeln@t-online.de

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