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Brühe und Burenkrieg – Ein Beispiel viktorianischer Werbung anhand von Bovril

Ein Gastbeitrag für Caricature & Comic von Tillmann Heise von der Universität Heidelberg.

Sehgewohnheiten ändern sich. Kaum einem Marketing-Chef wäre heute eine prosperierende berufliche Zukunft vergönnt, würde er für Rindfleischextrakt mit Ausgangs- und Endprodukt der Fertigungskette werben. (Abb. 1) Bulle und Brühe in einer Anzeige? Unvorstellbar. Und wenn zu allem Übel das lebende Tier seinen zu Pulver verarbeiteten „poor Brother“ im Glas beklagt, müsste sich die Öffentlichkeitsabteilung vermutlich nicht nur dem Tierschutzbund erklären.
Im Großbritannien der Wende zum 20. Jahrhundert haben solche Überlegungen augenscheinlich noch keine Rolle gespielt. Der Anfang der 1870er Jahre in England gegründete Hersteller von hochkonzentriertem Fleischextrakt, Bovril, trug den Ochsen (lat. bos, bovis) immerhin bereits im Namen.
Allerdings erschöpfte sich die werberische Kreativität Bovrils noch lange nicht im ‚Ausschlachten’ von Tiermetaphern, wie Werbeanzeigen in britischen Zeitungen aus der Zeit des Burenkrieges (1899–1902) beweisen. Nicht allein die ausgiebige Kriegsberichterstattung über die Kämpfe in Südafrika machte den Konflikt zum medialen Großereignis der Jahrhundertwende. Etliche britische Produkte bemühten just zu dieser Zeit kriegerische Sujets für ihre Zeitungsannoncen: Zigaretten, Kakaogetränke und eben Pulver für Rinderbrühe. Glenn R. Wilkinson hat in seinem kurzweiligen Aufsatz ‚To the Front’: British Newspaper Advertising and the Boer War einige erhellende Überlegungen zum Zusammenhang von Werbung und zeitgenössischen Diskursen innerhalb der britischen Gesellschaft angestellt. Das existentielle Bedürfnis nach Gesundheit und Reinlichkeit war angesichts des Massenelends im Schlepptau der Urbanisierung ein bedeutendes Gravamen der Zeitgenossen. Dazu trat die Frage der geschlechterbedingten sozialen Rollenverteilung bzw. jene nach männlichen und weiblichen Idealtypen; nicht zuletzt bedingt durch die medienwirksame Verurteilung Oscar Wildes aufgrund seiner Homosexualität im Jahr 1895. Beide Themen wurden nicht erst in der Zeit des Burenkrieges virulent, fanden aber in dieser Periode einen Kulminationspunkt unter anderem in der Werbestrategie Bovrils.
In der bereits angeführten Anzeige aus dem Londoner Massenblatt Penny Illustrated Paper vom 9. Dezember 1899 ist vom Krieg in Südafrika noch keine Rede, wenngleich dieser bereits in vollem Gange war. Allein der Ochse als Inbegriff der Stärke steht Pate für das Versprechen außerordentlichen Nährstoffreichtums; eine von Bovril lang erprobte bildliche und gedankliche Assoziation, die das Gesundheitsbedürfnis in der Bevölkerung bedienen sollte. Möglicherweise lief der Krieg für die Briten Ende 1899 schlicht nicht gut genug, um ihn als profitsteigernden Identifikationsspender zu engagieren. Schließlich brachten die Buren den britischen Truppen im Dezember innerhalb kurzer Zeit drei empfindliche Niederlagen bei und kratzten damit gewaltig am nationalen Selbstbewusstsein.

Diese These wird durch die Beobachtung gestützt, dass Bovril parallel zum wachsenden Kriegserfolg der Briten seine Werbestrategie mit dem Frühjahr 1900 ganz massiv auf den Konflikt in Südafrika ausrichtete. Bereits in der Penny Illustrated Paper vom 3. Februar 1900 ist der Ochse durch einen Bericht des hochdekorierten britischen Chirurgen und Militärarztes William MacCormac ersetzt. (Abb. 2) Nach der für die britische Armee siegreichen Schlacht am südafrikanischen Fluss Tugela seien sämtliche verwundeten Soldaten bei ihrer Ankunft im Feldlazarett mit einer heißen Tasse Bovril begrüßt worden, wie die fett gedruckte und abgesetzte Passage in der Werbeanzeige berichtet.
Die Annonce greift mehrere gängige Werbestrategien der späten viktorianischen Presse auf: Zum einen wird durch die oft bemühte Form des Testimonials, eines Erfahrungsberichts im Zusammenhang mit dem beworbenen Produkt, die geprüfte Einsatztauglichkeit desselben suggeriert.  Zum anderen ist es nicht irgendjemand, der diese Erfahrung mitteilt, sondern in Gestalt des Chirurgen MacCormac eine ausgewiesene und den Zeitgenossen nicht unbekannte Autorität in ihrem Fach. Von einem Celebrity zu sprechen, würde die Figur MacCormacs zwar über Gebühr strapazieren. Nichtsdestoweniger repräsentiert der prominente Arzt die verbreitete Verkaufsstrategie, dem eigenen Produkt eine bekannte und geschätzte Person des öffentlichen Lebens als Paten an die Seite zu stellen, um auf diesem Weg den Anspruch auf Exklusivität zu untermauern. Nicht zuletzt, um auf eine dritte Tradition viktorianischer Werbung zu rekurrieren, präsentiert Bovril die Äußerungen MacCormacs als Auszug seines Berichts für die renommierte medizinische Fachzeitschrift The Lancet. Qualitätsversprechen durch den Anschein von Wissenschaftlichkeit findet man in zahlreichen zeitgenössischen Annoncen.  
Was zeichnet Bovril-Werbungen im Burenkrieg also als außergewöhnlich aus, wenn scheinbar lediglich erprobte Strategien ventiliert wurden? Aus der Überschrift der besagten Werbeanzeige allein lässt sich noch keine befriedigende Antwort auf diese Frage formulieren. Der reißerische Titel „Bovril after the Battle“ verweist zwar auf die besondere Qualität der Fleischbrühe – immerhin taugt sie geschundenen Soldaten zur Kräftigung und muss daher auch im alltäglichen britischen „Überlebenskampf“ gegen die negativen Symptome der Modernisierung wirken. Allerdings erhellt sich eine bedeutende Dimension zum Verständnis der Quelle erst aus der Verortung der Werbung innerhalb der Zeitung; und zwar nicht nur bezogen auf die erwähnte Ausgabe vom Februar 1900, sondern hinsichtlich einer Periode, die auch die Zeit vor dem Burenkrieg umfasst.
Beide bisher bemühten Bovril-Anzeigen finden sich an der gleichen Stelle: im linken unteren Eck der „The World of Women“, der Frauenseiten der Penny Illustrated Paper. Darin offenbart sich einerseits das Phänomen, das bereits Lori A. Loeb in ihrer Monographie Consuming Angles beschrieben hat. Vorrangig Frauen, in ihrer Funktion als Finanzverwalter des Haushaltes, wurden als Zielgruppe zahlreicher Werbungen angesprochen.

Hinsichtlich des im Oktober 1899 ausgebrochenen Krieges erhält diese Beobachtung eine zusätzliche Dimension. Bovril-Werbung fand sich auch vor 1899 links unten auf den Frauenseiten wieder. Ohne Eingriff in die gewohnte Struktur der Zeitungsseite nehmen zu müssen, konnte der Fleischbrühen-Hersteller Kriegssemantik in das konventionelle Layout seiner Inserate integrieren. Die dezidiert männlich dominierte Sphäre des Krieges hielt dadurch Einzug in den für Frauen ausgewiesenen Teil der Zeitung, um für ein Produkt der täglichen Haushaltsführung zu werben. Bezeichnenderweise beschäftigt sich der Rest der Seite überwiegend mit Modetipps. (Abb. 3)
Bovril versuchte offenbar, die Vertrautheit der Konsumentinnen mit Werbeanzeigen am immer gleichen Platz zu nutzen, um in Zeiten des zunehmend erfolgreich verlaufenden Krieges mehr oder minder subversiv an den Patriotismus der Daheimgebliebenen zu appellieren. Es ist auf den ersten Blick sicher nicht naheliegend, Rinderbrühe mit Vaterlandsliebe zu assoziieren. Nun waren allerdings in einer Ausgabe der Penny Illustrated Paper von 1900 die ersten Seiten fast ausschließlich mit Kriegsberichterstattung über Südafrika gefüllt. Eine inhaltlich darauf abgestimmte Werbung für ein Produkt, das ohnehin mit einem spezifischen Ort innerhalb der Zeitung verbunden wurde und nun für sich eine kriegswichtige Funktion beanspruchte, muss als Verkaufsanreiz eine nicht zu unterschätzende Wirkung entfaltet haben. Emotional durch die Lektüre der Schilderungen von der Front vorgeprägt, werden die angesprochenen weiblichen Leser der Empfehlung MacCormacs vermutlich mit einer affirmativen Rezeptionshaltung begegnet sein. Dafür spricht auch, dass Bovril über mehrere Ausgaben hinweg mit der identischen Werbung am gleichen Platz präsent war. Neben die durch Expertenmeinung verbürgten Qualitäten des Produkts trat nationales Prestige als Verkaufsargument: Bovril stütze als integraler Teil den Erfolg der britischen Kriegsanstrengungen gegen die Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Transvaal. Ein Kauf eben dieser Rinderbrühe, und nicht etwa der eines konkurrierenden Wettbewerbers, wurde plötzlich zum Beweis der eigenen Solidarität mit den Landsleuten an der Front.
Dass diese Deutung einige Berechtigung beanspruchen kann, beweist schließlich eine großformatige Werbeanzeige aus der Daily Mail vom 19. März 1900. (Abb. 4)

Die Marschroute der historisch verbürgten Einnahme Kimberleys und Bloemfonteins, zweier von Buren besetzter Städte, unter Führung des britischen Feldmarschalls Lord Roberts im Februar und März 1900 habe auf der Landkarte den Schriftzug „Bovril“ hinterlassen. Noch nicht skurril genug, liefere dieser „Zufall“ einmal mehr den Beweis für den außerordentlichen Beitrag der Fleischbrühe zum Kriegserfolg Großbritanniens. Unter dem Argument der universellen Einsetzbarkeit des Produkts wird diesmal auch die Verknüpfung von Kriegsgeschehen und Heimatfront expliziert. Das Versprechen nach „flüssigem Leben“ werde nicht nur beim Soldaten auf dem Schlachtfeld, sondern auch beim um Gesundheit und Stärke bemühten Daheimgebliebenen eingelöst. Bovril inszenierte sich damit als durch und durch britisches Produkt, das für jegliche Anforderungen des Krieges rüste, zuhause und in Südafrika. Über die Ebene des Patriotismus hinaus eröffnet sich hier noch eine imperialistische Dimension: Die Qualität heimischer Produkte begünstige zu einem wesentlichen Teil die Überlegenheit Großbritanniens in der Welt.
Rinderbrühe als emphatisches Bekenntnis zum britischen Großreich? Aus heutiger Perspektive mag das reichlich fragwürdig, zumindest aber befremdlich wirken. Allerdings sollte man die Wirkung der medialen Omnipräsenz des Burenkrieges auf die Bevölkerung in Großbritannien nicht unterschätzen. Neue Perspektiven könnte auch eine Untersuchung der im Vergleich zum anonymen Supermarkt des 21. Jahrhunderts völlig anderen Verkaufssituation zur Jahrhundertwende eröffnen. Wenn die Einkäufe im persönlichen Gespräch mit dem Angestellten oder gar dem Ladenbesitzer hinter der Theke abgewickelt werden, erhält die Wahl eines bestimmten Produktes besonders in sozialen Ausnahmesituationen, wie zu Kriegszeiten, möglicherweise ganz neue Implikationen. Überspitzt und nicht ohne Augenzwinkern formuliert: Lieber Bovril kaufen, statt sich selbst als Landesverräter zu diskreditieren. Ob der Fleischbrühe-Produzent solche Überlegungen tatsächlich in seine Werbestrategie hat einfließen lassen, muss an dieser Stelle reine Spekulation bleiben. Deutlich mehr als das ist die Erkenntnis, die nach systematischer Analyse unzähliger Zeitungsseiten übrigbleibt: Bovril beherrschte auf souveräne Art und Weise die Spielarten spätviktorianischer Werbekunst und verstand sich darauf, sie für neue Sinn- und Bildspender fruchtbar zu machen. Den Rindern wird das freilich kaum ein Trost sein.

Literaturempfehlungen:

  • Loeb, Lori A.: Consuming Angels. Advertising and Victorian Women, New York u.a. 1994.
  • Wilkinson, Glenn R.: „To the Front“: British Newspaper Advertising and the Boer War, in: The Boer War. Direction, Experience, and Image (Military History and Policy 7), hg. von John Gooch, London 2000, S. 203–210.

 

Tillmann Heise
Universität Heidelberg

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