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Ätzende Details aus dem „Laster des Lebens“
Unter dem Titel „Laster des Lebens“ zeigt noch bis zum 6. September das Städel Museum in Frankfurt etwa 70 großformatige Radierungen von William Hogarth (1697-1764). Anlass ist das diesjährige Bestandsjubiläum des Städel und die Gewissheit, dass Hogarth von Anfang an mit einer großen Anzahl von Grafiken den Grundstock für das Kunstinstitut bildete. Nachdem bereits im vergangenen Jahr in der Kunsthalle Bremen eine Ausstellung den 250. Todestag Hogarths Werk würdigte, sind nun binnen kürzester Zeit wieder dessen Sitten- und Gesellschaftsbilder in der Öffentlichkeit zu sehen.
Hogarth bleibt also en vogue mit dem von ihm selbst geschaffenen Genre der „modern moral subjects“, jener Bildserien in geätzten Radierungen, die das Londoner Leben zu Beginn der modernen Gesellschaft kommentierten. In mehrteiligen Bildgeschichten erzählte Hogarth in der Tradition der Moritatensänger vom Schicksal der in London Gestrandeten („A Harlot’s Progress“, 1732), der Liederlichen („A Rake`s Progress“, 1735) und der Vorteil versprechenden Heirat („Marriage à la Mode“, 1745) wie der qua Sozialisation angeeigneten Grausamkeit gegenüber anderen („The Four Stages of Cruelty“, 1751). Immer stehen dabei Personen im Zentrum, deren Entwicklung über einen längeren (imaginierten) Zeitraum „beobachtet“ wird. Stets geraten die Protagonisten in einen Teufelskreislauf, gegen den sie nicht ankommen. Weder hat die neu in London eingetroffene Näherin eine Chance, ihren erlernten Beruf auszuüben, weil sie sofort nach dem Verlassen der Postkutsche in die falschen Hände gerät. Noch kann der Jüngling mit seinem Erbe „richtig“ umgehen (wer auch immer dies beurteilen mag), weil er ein falsches Vorbild hatte. Die beiden Zwangsvermählten hatten keine Gelegenheit, zueinander zu finden, war die Verbindung doch auf falschem Fundament gebaut. Und der junge Quälgeist konnte schon in jungen Jahren seinen Sadismus ungestraft ausleben.
So führt der Titel der Ausstellung denn auch auf eine falsche Fährte. Zwar fallen die Hauptdarsteller der Hogarth’schen Bilderzählungen den Lastern zum Opfer, doch geht es dem Künstler um mehr. Es sind nicht die am Individuum veranschaulichten Sittenbilder, mit denen an die Moral innerhalb einer leichtlebigen Gesellschaft appelliert würde. Hogarth hatte die Schattenseiten des Lebens bereits als Heranwachsender unmittelbar erfahren, als sein Vater wegen nicht beglichener Schulden für fünf Jahre im berüchtigten Fleet-Gefängnis einsaß und die Mutter mit drei Kindern ihn begleiten musste. Der Vater hatte sich als Geschäftsmann versucht, indem er eine Kneipe eröffnete, in der nur in lateinischer Sprache kommuniziert werden sollte. Mit diesem Konzept scheiterte er, wie viele seiner Zeitgenossen auch.
London war binnen kurzer Zeit zu einer Metropole angewachsen. Immer mehr Menschen, die vom Land in die Stadt zogen, suchten dort ihr Glück – oder zumindest ein höheres Auskommen. Daran hat sich bis heute nichts geändert und dies lässt die Blätter von Hogarth weiterhin aktuell erscheinen. Dieses Glückstreben ist an sich nicht verwerflich oder gar lasterhaft. Es sind die Auswirkungen der Aufklärung, die aus dem unmündigen Untertan einen selbstbewussten und schöpferischen Freigeist machen, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Das geht nicht immer gut.
In vielen weiteren, präzise ausgearbeiteten und detailreichen Radierungen stellte Hogarth (Lebens-)Künstler vor, die eher schlecht als recht von ihren Ideen leben können. Weder der „notleidende Poet“ ((1736/40) noch die „Wanderschauspielerinnen beim Umkleiden in einer Scheune“ (1738) schwelgen in Opulenz. Der „erzürnte Musiker“ (1741) der hohen Kunst eines Georg Friedrich Händel, der zu jener Zeit in London die Musikwelt bestimmte, hat gegen die Straßenmusiker anzukämpfen, deren Geräuschkulisse wenig melodiös sein mag. Hogarth nimmt aber auch politisch Stellung mit den beiden Grafiken „Die Invasion“ (1756), wenn er einen Bezug auf den Siebenjährigen Krieg herstellt. Seine Grafiken sind allerdings weit entfernt von politischer Karikatur, wie sie im 19. Jahrhundert aufkommt. Vielmehr bediente er damals noch gängige Klischees beim Aufbau von „Feindbildern“, wenn er Franzosen als magersüchtige Froschschenkelliebhaber diffamiert.
Es scheint deshalb auch weit hergeholt, bei Hogarth von Karikaturen zu sprechen. Ein Blatt der Ausstellung zeigt seine Differenzierungsansätze zwischen „Characters and Caricaturas“ (1743) – eine Ansammlung von Köpfen verschiedenster Ausprägungen. Hogarth sammelte aus historischen Vorlagen Profilansichten von Raffael, Pierleone Ghezzi, Annibale Carracci und Leonardo da Vinci im separierten unteren Bildbereich, schummelte eine einfache Strichzeichnung wie aus Kinderhand hinein und fügte quasi als „Wimmelbild“ unzählige eigene Kreationen hinzu. Damit widmete er sich eher den Abgrenzungsversuchen von Zeichnung zur Überzeichnung und wandte sich gegen die bloße Vereinnahmung in der zeitgenössischen Rezeption als Karikaturist. Seine Bildgeschichten sind nicht nur zum Lachen und machen auch niemanden lächerlich. Ihnen wohnt ein subtiler Witz bei, doch spielten die Geschichten auch mit Emblemata und der ikonografischen Entschlüsselung.
Selbst wenn sich die Bildstrecken der die Ausstellung begleitenden Broschüre auf die bekannten Bildserien der „modern moral subjects“ konzentrieren, ist in Frankfurt viel mehr über den modernen Künstler Hogarth zu erfahren. Sein Künstlerunternehmertum ist ebenso Thema wie seine kunsttheoretische Schrift „Analysis of Beauty“ (1753), die nur ein Jahr nach Erscheinen schon ins Deutsche übersetzt worden war. Die deutsche Erstausgabe ist in einer Vitrine zu sehen. Den Spötter Hogarth erlebt der Besucher in verschiedenen Einzelblättern, die sich mit der eigenen Künstlerschaft auseinandersetzen bis hin zum Ausgang der Ausstellung, ein letzter Blick des Künstlers auf sein Werk, bevor es gänzlich vernichtet wird: „Tailpiece or The Bathos“ / „Schussstück oder falsches Pathos“) entstand im Todesjahr des Künstlers. In Anlehnung an Dürers „Apokalyptische Reiter“ (um 1497) und „Melancholie“ (1514) reflektiert Hogarth nicht nur seine eigene Sterblichkeit, symbolisiert durch einen geflügelten Sensemann, dem eine Sprechblase zugeordnet ist, in der lapidar „Finis“ zu lesen ist. Hogarth verweist auch auf das Ende der Welt. Dabei lokalisiert er dieses Ende nicht. Der Weltuntergang gleicht einem Weltenbrand, gemalt auf einem Kneipenschild, das an einem Galgen baumelt. Alles ist aus dem Lot geraten und entzwei, da helfen nun auch keine Sittenbilder mehr.
Eine sehenswerte Ausstellung mit knappen und informativen Informationen zu den Serien und Einzelblättern, in der die Gesellschaft Londons zur Mitte des 18. Jahrhunderts lebendig wird. Die oft sehr kleinteiligen Details der erstklassigen Abzüge sind allerdings – nicht zuletzt wegen der aus konservatorischen Gründen unvermeidlichen Verdunkelung – kaum zu erkennen. Die Zuhilfenahme einer Lupe ist ratsam!
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