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Faule Eier – oder was es zu vertuschen gilt

Einen regelrechten Eiertanz legt der mit einer Augenbinde versehene Journalist aufs Parkett. Im November 1871 thematisierte André Gill (1840–1885) erneut die Einschränkung der Pressefreiheit auf der Titelseite der wöchentlich erschienenen Satirezeitschrift „L’Éclipse“. Schon mehrfach hatte er sich dieses Themas angenommen, es blieb – zum Leidwesen für ihn und seine Kollegen – weiterhin aktuell.

Die überdimensional großen Eier sind mit jenen heiklen Stichwörtern beschriftet, die ein Journalist in jenen Tagen besser nicht erwähnen sollte. Sie betreffen gleichermaßen Innen- wie Außenpolitik, wirtschaftliche, historische und rechtliche Fragen. Die dem Journalisten verpassten Augenbinde hindert ihn an der genaueren Betrachtung oder gar intensiven Analyse der unter der Eierschale verborgenen Inhalte. Alle Stichwörter sind sie heikel und fragil wie rohe Eier. Nicht immer wirken die Themenkreise frisch oder tagesaktuell, sondern greifen mitunter in die französische Geschichte des 19. Jahrhunderts zurück, wie die Bezeichnung „Bonapartisme“ suggeriert. Das mit „Lois“ (= Gesetze) beschrifte weiße Ei wirft einen harten Schlagschatten auf das dahinter befindliche blaue Ei. In der Kreuzschraffur ist der Schriftzug „Vie privée“ kaum noch auszumachen. Selbst die Privatsphäre also blieb in der übertreibenden Darstellung Gills von den Zensurbestimmungen nicht verschont. Schon ein einfaches „Oui“ oder „Non“ konnte einem Journalisten zum Verhängnis werden.

Allumfassend erscheinen jene Restriktionen, die mit der Machtübernahme durch Adolphe Thiers (1797–1877) ab 31. August 1871 erneut die Pressefreiheit einschränkten. Als erster Staatspräsident der Dritten Republik vertrat Thiers eine konservative, aber republikanisch ausgerichtete Politik. Das mit seiner Ernennung verabschiedete „Loi Rivet“ hatte zunächst provisorischen Charakter und wälzte dabei die Verantwortung für Entscheidungen auf die Minister ab. Zugleich konnte Thiers aber auch jederzeit wieder abberufen werden. Mit harter Hand hatte er im Mai 1871 die Pariser Commune aufgelöst. Nun lag es an ihm, das durch den Deutsch-Französischen Krieg mental und pekuniär arg gebeutelte Frankreich zu neuer Größe heranzuführen. Bismarck hatte hohe Reparationsleistungen ausgehandelt, die Dritte Republik saß keineswegs fest im Sattel, denn die Royalisten versuchten mit allen Mitteln und höchst uneinig, die Monarchie wieder einzuführen. Keine leichte Situation, in der sich Thiers in jenen Tagen befand, musste er doch gleichzeitig auch seine eigene Position und Legitimation behaupten.

In solchen Fällen ist das Recht auf freie Meinungsäußerung stets gefährdet. Kritische Stimmen oder gar Verunglimpfungen durch Karikaturen wirken kontraproduktiv auf den Ausbau von Machtpositionen und auf das Durchsetzungsvermögen von Politikern. Deshalb bleibt dieses Thema auch aktuell, und dies nicht nur in Staaten, in denen generell die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Einschränkungen der freien Meinungsäußerung laufen nur in der Außenbetrachtung unter der Bezeichnung „Zensur“. Den eigenen Bürgern gegenüber treten andere Begrifflichkeiten zum Vorschein – quasi eine Fortführung des Eiertanzes, wenn das Kind nicht beim Namen genannt werden soll, nur diesmal von jenen vollführt, die sich jene Beschränkungen ausdenken. Jüngstes Beispiel ist der errungene Kompromiss der deutschen Bundesregierung zur Höchstspeicherfrist alias Vorratsdatenspeicherung. Das Sammeln von Telefon- und Internetdaten stellt zwar im engeren Sinne keine Zensur dar, doch beweist die Ausnahmeregelung für Journalisten, Pfarrer, Seelsorger und Ärzte, dass mehr als nur ein Verbindungsnachweis über einen begrenzten Zeitraum denkbar wäre – und deshalb auch nicht auszuschließen ist, dass diese Kommunikationskontrolle eine Einschränkung der Bürgerrechte impliziert. Übrigens sorgte die wenige Minuten nach dieser dpa-Meldung eingegangene Nachricht vom bevorstehenden Rücktritt Jürgen Klopps als Trainer des BVB Dortmund für weit größere Wellen in der Presse!

Wie wichtig den Herausgebern der Karikaturzeitschriften des 19. Jahrhunderts die eigene Interpretationsmöglichkeit von Zeitgeschehen war, lässt sich daran ablesen, dass sie – sobald ihnen die Zensur mit dem Aus drohte – nicht aufgaben. „L‘Éclipse“ ist die Nachfolgerin der zwischen 1865 und 1868 herausgegebenen Karikaturzeitschrift „La Lune“. Auf seiner weißen Weste trägt der Künstler André Gill, der sich in dieser Karikatur selbst darstellt, beide Embleme der Zeitschriften – den klaren Vollmond und dessen verfinsterte Erscheinung. Insofern ist das für dieses Themenportal gewählte Leitbild programmatisch zu lesen: Schreiben wir an für den Erhalt der Meinungsäußerung, wagen wir den Eiertanz – nicht nur an dieser Stelle!

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