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Geist, gezeichnet von Anorexie

Der berühmte Literatuwissenschaftler Ernst Robert Curtius soll einmal einen Ruf nach Aachen mit der Begründung abgelehnt haben, er müsse dann ja in Zukunft Ingenieure mit "Herr Kollege" anreden. Eine ähnlich typische Herablassung der Geistes- gegenüber den Ingenieurs- und Natuwissenschaften kommt im Pseudotiefsinn eines Roland Reuss zum Ausdruck, der seinen Feldzug gegen open access (und - unterstützt vom Verlagswesen - gegen die DFG) munter fortsetzt. Zuletzt schreibt er in der NZZ: "Ohne diese Materialisation (gemeint ist das Buch) keine selbstbewusste menschliche Individualität, die uns als Vorbild dienen könnte, ohne diese wiederum keine menschenwürdige Entwicklung. Der Schwarm ist dagegen ein Schmarrn, die staublose Datei im Netz ein Tiefpunkt gewonnenen Wissens: Geist, gezeichnet von Anorexie. Die Vorstellung von Erlösung reduziert auf die eines Laserdruckers." Lakonisch kommentiert das der prelentaucher: Adipöse Einsichten! Ich füge hinzu: Das Feigenblatt von FAZ und deutschem Verlagswesen gegnüber notwendigen Neuerungen.

5 Kommentar(e)

  • Notwendige Neuerung

    Beispiel:

    Erzählen persönlicher Erlebnisse kurz in Form von Tagebucheinträgen (postings) in einem Blog mit der Möglichkeit rascher feedbacks von der community.

    Ergebnis:

    Vermeiden solcher von der Öffentlichkeit abgekoppelter, Ich-bezogener Gedankengänge ohne Grenzen und ohne Umriss wie in dem o.g. Beitrag in der NZZ.

    Was man da lesen muss, ist zum Teil sehr sehr schlimm, finde ich.

  • Hubertus Kohle
    31.10.2011 15:50

    Völlig d'accord. Wir verfügen ja mit dem Hybrid-Modell längst über eine Brücke zwischen den beiden Welten

  • Ben Kaden
    31.10.2011 15:33

    Die "gängige Münze" ist ein gutes Beispiel dafür, dass man eigentlich vermittelnde Akteure benötigt, wo eine Sache zwei gegensätzliche Seiten hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass vielen GeisteswissenschaftlerInnen das Medium Buch so sehr identitätsstiftendes Merkmal geworden ist, dass sie es mitunter mit einer Wucht verteidigen zu neigen, die der Sachlage nicht angemessen ist. Denn sie glauben, sie kämpften um ihre eigene Existenz.
    In anderen Diskursfeldern wird das Analoge dagegen als hoffnungsloser Anachronimus gebranntmarkt. Gedruckte Bücher sind Ballast und ohne sie wären nicht nur lange Zugreisen angenehmer.

    Als Bibliothekswissenschaftler stehe ich genaugenommen zwischen diesen Extrempolen und schüttele über die Verkündung des hypertextuellen Paradieses genauso den Kopf wie über das Ausrufen der intellektuellen Apokalypse im Web.

    Ich denke, wir gewinnen mehr, wenn wir von Ausschließlichkeiten Abstand nehmen. Ich staune immer neu, wie so beide Seiten mit Bedrohungs- und Ablösungsszenarien aufwarten, wo viel mehr die Frage im Raum stehen sollte, wie man das Beste aus beiden Welten d.h.: eine diversifizierte Medienkultur gestalten kann. Was die Möglichkeit zur textvermittelten Kommunikation angeht, sind die Möglichkeiten heute so groß wie vermutlich noch nie in der Mediengeschichte. Das langsame gedruckte Buch kann darin genauso eine Rolle spielen wie der schnelle Tweet (und der Laserdrucker). Wenn Sie diese Erkenntnis mit "notwendige Neuerungen" meinen, bin ich ganz bei Ihnen. Sollten Sie dagegen meinen, dass sich nur noch der Wissenschaftler nennen darf, der permanent Blogpostings in die Welt schleudert - was ich nicht glaube, aber es gibt solche polarisierenden Kollegen - sehe ich mich in großer Distanz.

  • Hubertus Kohle
    31.10.2011 14:24

    Der Artikel von Reuss ist in der Tat entschieden bedenkenswerter als er in meiner Polemik erscheint. Allerdings bin ich nicht einverstanden mit der Behauptung "die Transformation des Mediums Buch zum E-Book – darunter die inflationäre Verwendung von Zuschreibungen wie “unumgänglich”, “zwangsläufig” und “notwendig” sei gängige Münze. In den Geisteswissenschaften ist es eher andersherum!

  • Ben Kaden
    31.10.2011 14:11

    Ich bin grundsätzlich mit sehr vielem nicht einverstanden, was Roland Reuß schreibt. Besonders die von ihm herangezogen Bilder ("Anorexie") beweisen zwar große Freude an spielerischer Rhetorik, eröffnen jedoch im Diskurs mehr Angriffs- als Anknüpfungspunkte.

    Sein mediengeschichtlicher Beitrag in der NZZ ist auf den ersten Blick inhaltlich so flach wie das Tiefkühlpizza-Gleichnis, in der Essenz aber m.E. nicht einfach wegzuwischen. Wenn sich Reuß nämlich auf die Frage des Zusammenhangs zwischen dem Denken, der Kommunikation des Gedachten und der dazu gehörigen Kommunikationsmittel sachlich beziehen würde, dann hätte man tatsächlich einen bislang meiner Ansicht nach nicht zureichend beleuchteten Punkt auf der Agenda. Denn vieles in der Debatte um die Transformation des Mediums Buch zum E-Book - darunter die inflationäre Verwendung von Zuschreibungen wie "unumgänglich", "zwangsläufig" und "notwendig" - scheint mir unterreflektiert. Für die meisten Literaturverlage sehe ich derzeit keine akute Notwendigkeit, ihre Produktion auf E-Books umzustellen. Solange sie Angst vor Raubkopien haben, würde ich ihnen sogar davon abraten, digitale Kopien zu verbreiten.

    Wir benötigen zweifellos kritische Geisteswissenschaftler und Medienwissenschaftler, um den häufig in Richtung digitalen Positivismus laufenden Diskurs, der sich aus Markthoffnung und -interessen, Technikbegeisterung und oft auch simpler Rechthaberei speist, ein wenig zu durchbrechen. Dass der skurrile Kulturpessimismus von Roland Reuß dem eher nicht dienlich ist, liegt auf der Hand.
    Es schiene mir nur bedauerlich, wenn darüber hinaus jeder Einwand gegen eine unkritische Propagierung einer Publikationskultur in e-only gleich mit verworfen würde. Keine Technik sollte Selbstzweck sein und jede Technik hat für bestimmte Kontexte förderliche und nachteilige Effekte. Diese Komplexität zu erfassen, wäre der eigentliche Auftrag von Beiträgen wie dem Roland Reuß' in der NZZ. Diese Komplexität zu analysieren ist der Auftrag einer zeitgemäßen Medienwissenschaft.

    Mit dem Thema "Open Access" würde ich den Artikel "Warum ein Buch selber stehen können sollte" hier gar nicht verknüpfen. Der Text richtet sich gegen die Digitalisierung als generelles Phänomen. Dass Open Access eine Konkretisierung der Digitalisierung darstellt, ist klar. Da Reuß selbige aber nicht thematisiert, sollte es auch bei der Bewertung des Artikels keine Rolle spielen.

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