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Viel Geist, wenig Materie?

Ansichten eines Materialisten (1)

 

Materialist

(lat.), Anhänger des Materialismus (s. d.); Detailhändler, Spezereihändler, der mit Materialwaren (s. d.) oder Spezereien handelt, auch soviel wie Drogist (s. Drogen)

 

Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 425.

 

Im Allgemeinen bringt die Kunstgeschichte, besonders die deutschsprachige, den Fragen von Material und Technik von Kunstwerken eine überwältigende Ignoranz entgegen. Wer hat nicht schon tiefreichende ikonologische Vorträge erlebt, bei denen es dem Referenten offensichtlich vollkommen gleichgültig war, ob das projizierte Bild eine Zeichnung, eine Druckgrafik, ein Gemälde oder ein Relief wiedergab. Es gibt allerdings auch rühmliche Ausnahmen in der jüngeren Kunstgeschichte. Neben jener kurrenten Mißachtung der Materie gibt es sogar Beispiele fachübergreifender Zusammenarbeit von Restauratoren, Naturwissenschaftlern und Kunsthistorikern – und erste Ansätze dessen, was im angelsächsischen Raum seit zwei Jahrzehnten als „technical art history“ praktiziert wird.

 

Schließlich scheint bis jetzt kaum eingelöst, was Monika Wagner am Ende ihres Buches „Das Material der Kunst“ gefordert hatte:

Daß es nun an der Zeit sei, von der Materialität der neuen Medien zu reden. Aber auch hier gibt es hoffnungsvolle Ansätze.

Von alldem wird in diesem Blog – hoffentlich - die Rede sein.

 

Die folgenden Beispiele allerdings entstammen allesamt mediengeschichtlichen Abhandlungen der letzten Jahre, die das Materiell-Technische der Kunstwerke nicht ganz vernachlässigen wollten. Und dennoch ...

 

So ließ ein berühmter Medienhistoriker in einer seiner (veröffentlichten) Vorlesungen den düsteren Satz in die Welt: „Ohne Ölfarben, also ohne Petrochemie und deren Weltkriege waren bestimmte malerische Illudierungen nicht zu haben.“ Das paßte zwar gut zur These, daß die medientechnischen Fortschritte stets den Fortschritten der Kriegstechnik zu verdanken seien – ist aber nichts weniger als wahr. Ölfarben haben pflanzliche, trocknende Öle als Bindemittel (Leinöl, Mohnöl, Walnußöl), eine vom Steinöl, oder Petroleum, oder eben: Erdöl, vollkommen verschiedene Stoffgruppe. Jenes läßt sich auch nicht als Bindemittel verwenden. Wenigstens in stoffkundlicher Beziehung richtig wäre allenfalls die Behauptung gewesen, die Petrochemie habe die modernen Acrylfarben ermöglicht, weil die hier verwendeten Acrylate tatsächlich gecracktes Naphtha, also das unbehandelte Erdöldestillat, zum Rohstoff haben. Aber das gibt der infragestehende Satz nicht her. Als Beleg für die These taugt seine Behauptung jedenfalls nicht.

 

 

Anläßlich der „Sterblichkeit“ von Kunstwerken führt derselbe Autor aus: „Deshalb standen in den Malereianweisungen seit der Renaissance lauter Warnungen vor schlechten Pigmenten, also chemischen Farben, die wie das Drachenblut, der Gummilack, das Zinnober und der Karmin im nachhinein dunkeln oder bleichen [...].“ Von den vier genannten Stoffen wurde lediglich einer – neben seiner Gewinnung im Bergbau – „chemisch“ hergestellt: der Zinnober. Karmin ist, genau genommen, kein Pigment, sondern ein Farbstoff, mit dem sich farblose Substratkörner einfärben ließen, die dann allerdings ein Pigment, einen sogenannten „Farblack“ bildeten. Die übrigen beiden Stoffe aber sind überhaupt keine Pigmente, sondern pflanzliche Harze, also Bindemittel, wovon das intensiv rote Drachenblut tatsächlich färbende Eigenschaften hat.

 

In einer lesenswerten Abhandlung über Walter Benjamin findet sich wiederum die Behauptung, Joseph Nicéphore Niépce, der Miterfinder der Fotografie, habe „mit Asphalt gedruckt“. Wahr ist daran die Verwendung von Asphalt (dem Naturprodukt) – aber Nièpce nutzte dessen Eigenschaft aus, durch Belichtung seine Löslichkeit in Benzin zu verlieren. Der Vorgang war dabei folgender: Ein transparent gemachter Kupferstich wurde auf eine mit Asphaltlösung bestrichene Zinnplatte zum Belichten durch die Sonne gelegt. Danach waren die weißen Bereiche zwischen den schwarzen Linien auf dem Asphalt unlöslich geworden. Mit Lavendelöl und Benzin ausgewaschen, wurde die Zinnplatte unter den schwarzen Linien freigelegt und konnte nun wie eine Radierung geätzt werden. Von dieser gedruckt wurde allerdings mit herkömmlicher Druckerfarbe – nicht mit Asphalt.

 

In einem neueren Werk über Medienexperimente der 1920er Jahre finden sich folgende Sätze zu Bau und Funktion des menschlichen Auges: „In der Zellschicht der Retina liegen die Licht- und Fotorezeptoren, die so genannten Zapfen und Stäbchen. Erstere sind für die Wahrnehmung in der Dämmerung zuständig, Letztere für Farben und das Detailsehen.“ Aber mal abgesehen von der Tautologie von „Licht“ und „Foto“ – in der Sache verhält es sich gerade umgekehrt: Die Zapfen sind für das Farbensehen zuständig, die Stäbchen für das in der Dämmerung.

 

Ein letztes Beispiel für heute: „Wiederum Hering folgend, geht Ostwald nicht – wie Helmholtz und viele andere – von drei, sondern von vier Grundfarben (‚Urfarben’) aus – statt Blau, Gelb, Rot also Blau, Grün, Gelb, Rot [...]." Das klingt zunächst plausibel – nur daß Helmholtz die drei farbigen Lichter, Blau, Grün, Rot als Grundfarben postuliert hatte. - Zu dumm nur, daß ich das selber geschrieben habe, vor fünf Jahren.

 

Aus allen Beispielen geht hervor, daß selbst dort, wo sich Kunst- und Mediengeschichte auf Materialität einlassen, sorgfältiges Studium von deren technisch-naturwissenschaftlichen Aspekten meist fehlt. Dadurch schneiden wir uns selbst von wichtigen Erkenntnisquellen ab – und laufen Gefahr, dummes Zeug zu schreiben. Umso peinlicher, wenn dies noch mit dem triumphalen Gestus dessen geschieht, der sich mit dem technischen Fortschritt im Bunde glaubt – gerade im „Mediendiskurs“ hat sich eine Art von „Mediensprech“ etabliert: mit viel Deleuze, Flusser, Luhmann, bestenfalls noch mit einem Quentchen Wahrnehmungspsychologie, aber ohne Mathematik, Physik und Chemie.

 

2 Kommentar(e)

  • Albrecht Pohlmann
    11.03.2009 22:12

    "Hochfliegend und bodenlos" - kürzer und prägnanter läßt sich der Eindruck kaum beschreiben, der auch mich oft angesichts des "Wissenschaftsbetriebs" befällt. - Dennoch möchte ich die Anonymisierungen nicht aufheben - und das letzte Beispiel bezog sich wiederum einen meiner eigenen Texte. Die erste Person Plural sollte keine Koketterie sein - Gefahr, auf diese Weise Unsinn zu schreiben, laufen wir alle. Eben weil es unter "Gebildeten" meist als eine Art Kavaliersdelikt behandelt wird, in der Schule "in Mathe" (usw.) schlecht gewesen zu sein ... "Wenn ich keine Ahnung habe, halte ich den Mund", hat Enzensberger bemerkt - und selbst der hat sich an diese löbliche Maxime nicht immer gehalten.

  • Hubertus Kohle
    10.03.2009 09:57

    Die genannten Zitate sind blendende Beispiele für das, was heute im Wissenschaftsbetrieb angesagt ist: hochfliegend und bodenlos. Schön wäre allerdings zu erfahren, auf wessen Mist denn das alles gewachsen ist.
    Hubertus Kohle

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