2. Tag (05.12.2015)
Zu Beginn des zweiten Tages verglich Wolfgang Voigt vom Deutschen Architekturmuseum (Frankfurt a. M.) in einem Keynote-Vortrag die Italien- und Orientfahrten von Paul Bonatz (1877-1956) und Dominikus Böhm (1880-1955). Der Autor von Katalogen und Ausstellungen zum Bauhaus, zur anderen Moderne, zu ‚unbequemen‘ Denkmalen und Verkehrsbauten rekonstruierte die mehrstufigen Transformationen ausländischer Formen und Motive im Oeuvre beider Architekten. Bei Bonatz ging die zeichnerische Erfassung der Baukunst des Vorderen Orients und Italiens in unterschiedlichste Projekte, zum Beispiel für den Stuttgarter Hauptbahnhof, ein. Böhm studierte und bereiste wiederholt Italien, wobei er für seine radikalen Raumschöpfungen auf Sakralbauten der Neuzeit zurückgriff. In der von ihren Zeitgenossen kritisierten Rezeption historischer Baumassen und -formen konnte Voigt die Suche nach einem „freien Gleichgewicht“ und einen innovativen Traditionsbezug ausmachen.
Unter der Leitung von Sybille Ebert-Schifferer wurden in der folgenden Sektion „Italienbilder und Bilder Italiens“ in den Blick genommen, womit die Wechselwirkung zwischen fotografischen und zeichnerischen Architekturdarstellungen und Italienvorstellungen thematisiert wurde. Regine Schallert (Rom) befasste sich mit den Fotoalben des Belgiers Jules Brunfaut (1852-1942), die in der Fotothek der Bibliotheca Hertziana aufbewahrt werden. Der Erbauer historistischer Stadthäuser, so legte Schallert überzeugend dar, erwarb und ordnete verschiedenste Aufnahmen nach kunsthistorischen Kriterien und Gattungen zur Findung eines belgischen Nationalstils. Das Pantheon in den Skizzenbüchern der Nachkriegszeit war Gegenstand des Beitrags von Fabio Colonnese (Rom). Die Strategien nachvollziehend, die den räumlichen Effekt des antiken Bauwerks und seiner Umgebung einzufangen versuchten, beobachtete Colonnese den zugrunde liegenden Wahrnehmungswandel. In dem von Angelika Schnell (Wien) gehaltenen Vortrag stand die Visualisierung der Baugeschichte bei Aldo Rossi (1931-1997) und Paolo Portoghesi (*1931) im Vordergrund. Rossis Architektur-Collagen seien im Hinblick auf einen geschichtsbewussten Entwurfsprozess zu hinterfragen. Portoghesis fragmentarische, ungewöhnliche und beinahe voyeuristisch ins Bild gesetzten Baudetails zeugen indessen von der Loslösung der Architekturfotografie von der Zeichnung. In der Diskussion kamen abermals Fragen zur Rolle der Fotografie als Ersatzmedium auf – was, wie bemerkt wurde, für die Jahrhundertwende aufgrund des begrenzten Zugangs kaum zutreffen dürfte. Ebenso wurden der Umgang mit der Fotografie und dessen prägende Wirkung auf den nordalpinen Blick angeführt.
Die von Klaus Tragbar moderierte Nachmittagssektion zur „Architektur im Vorüberreisen“ konzentrierte sich auf das Bewegungsmoment der Italienerfahrung. Rainer Schützeichel (Zürich) lud auf eine Fahrt mit dem ADAC nach Sizilien von 1924 ein. Die Idee für diese von sportlichem Ehrgeiz geleitete fünftägige Reise mit dem Automobil entsprang weniger einem Bildungsauftrag, wie ihn der als kunsthistorischer Begleiter engagierte Architekt Hermann Sörgel (1885-1952) im Sinn hatte, denn der Werbeabsicht. Ungeachtet dessen kam Schützeichel zum Ergebnis, dass hierbei ein großräumlicher, unmittelbarer Sinneseindruck der italienischen Landschaft inszeniert wurde. Erik Wegerhoff hingegen verfolgte in seiner Studie zum Nachleben des Nolli-Plans die These des traditionell fußläufigen Raumerlebnisses bei modernen Architekten. Bei Reisenden, wie Sigfried Giedion (1888-1968), Bernard Rudofsky oder Robert Venturi (*1925), verband sich die anhaltende Begeisterung für den römischen Stadtraum mit der Vorliebe für die wohl berühmteste Karte Roms als theoretisches Konstrukt, praktisches Instrument, Inspirationsquelle und Erinnerungsstück.
Im Zentrum der letzten Sektion standen „Italien und die Postmoderne“. Kai Kappel setzte sich mit den Reisen von Heinz Bienefeld (1926-1995) und Alexander von Branca (1919-2011) in Hinblick auf eine andere Moderne auseinander. Eine nahezu archäologische Präzision gepaart mit schöpferischer Distanz zu historischer Form (Bienefeld) und Material (Branca) brachten traditionalistische und doch innovative Raumkonzepte mit neuen Konstruktionsmöglichkeiten hervor. In einer kritischen Lektüre extrahierte Simina A. Purcaru (Bukarest) Motive des Reisens und Heimkehrens aus architektur- und literaturtheoretischen Betrachtungen der Hypnerotomachia Poliphili. Der italienische Raum – zwischen gebauter Realität, Theorie und Imagination – und die Jetztzeit träfen bei Autoren wie Dalibor Vesely (1934-2015), Alberto Pérez-Gómez (*1949) oder Liane Lefaivre als Ideal- und Gegenbild aufeinander. In dem letzten Vortrag des Studientages setzte Dietrich Erben (München) die Reiseeindrücke von Charles W. Moore (1925-1993) mit dessen Konzepten der Geschichtskonstruktion in Beziehung. Durch direkte Anleihen schuf Moore artifizielle, szenografische Erinnerungsorte in der Popkultur. Weiterhin fragte Erben nach Fakt, Fiktion und Grenzgängen in der Postmoderne, wobei Italien als eine Konstante im Kanon fungierte. Der traditionelle Sehnsuchtsort konnte, wie resümiert wurde, immer wieder neu entdeckt werden und mitunter eine Versöhnung mit historischer Fülle, der ‚postkanonischen Lücke‘ und der Komplexität der Gegenwart verheißen.
Die zahlreichen Debatten verdeutlichten bezeichnende Schwerpunkte der Beschäftigung mit Architektenreisen im 20. Jahrhundert. Diese mit den Begriffen der Sehnsuchtslosigkeit und des Postkanonischen zu befragen, bildete die von den Veranstaltern vorgeschlagene Gesprächsgrundlage. Mehr als die Erkenntnis, ob Italien an Anziehungskraft verloren hätte, rückten Reisegründe, -arten, -verhalten und -ziele sowie die Dokumentation, Wahrnehmung, Verarbeitung und Erinnerung individueller oder gemeinschaftlicher Reiserlebnisse ins Blickfeld. Die Auseinandersetzung mit dem historischen Architekturkanon Italiens blieb fruchtbares Moment für Raum- und Formexperimente. Mehrfach wurden Reisen als sehnliche Einkehr in ein bestimmtes Italien – zur Findung der eigenen Architektursprache oder nationalen Identität – enthüllt. In dem Zusammenhang dürfen Anschauung, Aneignung und Anregung von Orten sicher als zentrale Einflussgrößen verstanden werden. Das vielfältige wie konsistente Programm näherte sich teilweise chronologisch, teilweise problemorientiert der Thematik an. Durch die zeitlich-topografische Breite der Beiträge vom Ende des 19. bis ins 21. Jahrhundert boten sich interessante Gegenüberstellungen und vielfältige Aspekte, die weitere Forschungsperspektiven eröffnen. Das hohe Potenzial der Veranstaltung, eine Plattform des internationalen Austausches zu werden, zeigte sich an der intensiven wie regen Gesprächsbeteiligung, die hier nicht annähernd wiedergegeben werden konnte. Auf eine Fortführung des Studientages in Form einer Reihe oder als größere Konferenz wäre daher zu hoffen. Genauso darf mit Spannung eine mögliche Publikation erwartet werden, die erstmalig präsentiertes Material, bislang kaum erforschte Fallbeispiele, Erkenntnisse aus neuen Vergleichen und wertvolle Überblicke zu italienischen Architektenreisen versammeln würde.
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