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Hurra! Digitale Kunstgeschichte

Gastkommentar von Ulrich Pfisterer

 

Digitale Kunstgeschichte muß integraler Bestandteil des Faches werden – wenn Digitale Kunstgeschichte nicht überhaupt die Zukunft des Faches ist. Zu dieser Forderung hat Maximilian Schich, Associate Professor for Arts and Technology an der University of Texas at Dallas und derzeit Fellow am Center for Advanced Studies (CAS) der LMU München, am vergangenen Freitag einen bemerkenswerten Vortrag gehalten: „Art History, Migration, and Quantitative Network Science“. Der Text wird demnächst auch im International Journal for Digital Art History veröffentlich werden (http://www.dah-journal.org/).

 

Mit Blick auf und unter Verwendung von digitalen Netzwerktheorien und -analysen für den Einsatz von (mehr oder weniger) Big Data wurden drei Ebenen angesprochen: Es existieren mehrere große Trennlinien und weitgehend ‚unbespielte Gebiete‘ zwischen den Disziplinen, am deutlichsten zwischen den humanities und den sciences, den Geistes- und Naturwissenschaften; deutlich wird dies etwa, wenn man systematisch Zitiergewohnheiten und -häufigkeiten auswertet. Aber auch innerhalb der Kunstgeschichte selbst lassen sich auf ähnliche Weise die ‚blinden Flecken‘ und wenig bearbeiteten Themenfelder aufzeigen. Schließlich illustrierte Schich am Beispiel der Migration von KünstlerInnen und von Werken (etwa der Rezeption antiker Monumente in der Renaissance) Anwendungsmöglichkeiten und Fragefelder einer solchen Digitalen Kunstgeschichte. Schichs Plädoyer ist klar: Es soll eine viel engere Zusammenführung und intensiveren Austausch von humanities und sciences geben. Eine digitale Kunstgeschichte darf nicht nur im Sinne neuer digitaler tools verstanden werden, sondern sie bringt eine grundlegende qualitative Veränderung der Forschung. Dies verlangt und gelingt nur bei einer Öffnung des Faches über seine ‚traditionellen‘ inhaltlichen und methodischen Grenzen hinaus.

 

Ich bin ganz dieser Meinung! Gerade deshalb scheint mir wichtig, daß die Digitale Kunstgeschichte – um in eine neue Phase des Gesprächs mit den anderen VertreterInnen des Faches einzutreten – ihre erste ‚Hurra-Phase‘ hinter sich läßt. Ähnlich wie an den Entwicklungsdynamiken und -schritten etwa der Genderforschung gesehen, dürfte der Dialog dann produktiv werden, wenn beide Seiten neben dem, was sie einbringen können, intensiv auch die Bedingtheiten und Grenzen des eigenen Zugriffs mitreflektieren. Der Vortrag von Schich läßt mich nach sechs Punkten fragen:

 

1. Schich nutzt die Analyse großer Forschungsdatenmengen, um wenig oder nicht bearbeitete Gebiete sichtbar zu machen und diese als potentielle zukünftige Forschungsfelder des Faches auszuweisen. Das Kriterium der ‚Forschungslücke‘ war natürlich auch bislang relevant – allerdings gewinnt es hier einen ganz neuen Stellenwert: Nicht Aktualität, nicht Bedeutung, nicht Vorlieben bestimmen die weiteren Fragen, sondern überhaupt erst die aus quantitativen Analysen gewonnenen Einsichten in Defizite sollen die Forschung lenken. Dabei scheint es naheliegend – ohne thematisiert worden zu sein –, daß das Aufzeigen solcher Lücken immer auch auf den Vorannahmen der Datenerhebung und -ordnung beruht (so waren etwa in einer Graphik Schichs ‚Ort‘ und ‚Zeit‘ Koordinaten, nicht aber Gender; eine andere Graphik basierte auf der Einschätzung von Phasen gesteigerter ‚Kreativität‘).

 

2. Der Vortrag – und möglicherweise Digitale Kunstgeschichte insgesamt auf weiten Strecken – basieren nicht nur ganz wesentlich auf dem Einsatz und der Evidenz von Schaubildern, ihre Ergebnisse werden praktisch überhaupt erst in analysierenden Graphiken erkenn- und vermittelbar. Die Einsicht der Bildwissenschaft, daß diese bei allem Bemühen um ‚Wissenschaftlichkeit‘ immer artifizielle (Vor-)Entscheidungen darstellen, die nicht nur Ergebnisse darstellen, sondern diese Ergebnisse mitproduzieren, sollte offensiv thematisiert werden.

 

3. Daran schließt an, daß es auch bei Digitaler Kunstgeschichte nicht um ein finales Präsentieren von Ergebnissen (zumeist eben in Form von Graphiken) gehen kann. Kritisch gezeigt und mit allen FachvertreterInnen zusammen diskutiert werden müßte der Weg dorthin. Digitale Kunstgeschichte kann ihre Methodendiskussion nicht mit dem Verweis auf allgemeine Verfahrensweisen der Big-Data-Analyse ‚auslagern‘ noch das Fach in vermeintlich guter Absicht davon ‚entlasten‘. Die Vermutung wäre, daß sich hier als ein Ergebnis der Zusammenarbeit von humanities und sciences unter anderem zeigen wird, das ‚subjektive Faktoren‘ gar nicht auszuschalten, sondern weiterhin offensiv einzubeziehen sind.

 

4. Digitale Kunstgeschichte sieht sich häufig in der Situation, daß genügend große Datenerhebungen als Grundlage fehlen. Das führt dazu, daß vielfach mit einer sehr spezifischen Gruppe von Datensammlungen (von Wikipedia bis AKL) gearbeitet wird (das Problem, qualitativ einheitliche Datenerhebungen auf hohem Standard zu bekommen, sei hier gar nicht angesprochen). Daraus resultieren zwei Fragen: Wie lassen sich Untersuchungen auf dem aktuellen kunsthistorischen Reflexionsstand verfolgen (ein Beispiel: Werden nicht etwa künstlerbiographische Fragestellungen aufgrund digitaler Künstlerlexika favorisiert, wogegen Sammler, Händler usw. deshalb in die Netzwerke kaum einbezogen werden, da entsprechende Daten fehlen und möglicherweise manche Fragen eben auch nur sehr begrenzt ‚datenförmig‘ zu erheben sind)? Und: Verstärkt Digitale Kunstgeschichte nicht die Tendenz zu einer Kunst- und Bildgeschichte der Gegenwart der am höchsten digitalisierten Nationen allein schon deshalb, da hier die meisten Daten vorliegen? Werden Antike und Mittelalter, first nations oder auch sehr spezielle, kleine und begrenzte Felder von Kunst und Kultur aufgrund mangelnder Daten zumindest in manchen Bereichen dann zu den neuen Randbereichen des Faches?

 

5. Solange nicht das Gegenteil bewiesen wird, muß man mit der Möglichkeit rechnen, daß die humanities anders funktionieren als die sciences und also die ‚Kluft‘ zwischen ihnen auch eine gewisse Berechtigung hat. Dies dürfte insbesondere für die Kunstgeschichte zutreffen als einer Disziplin, in der mit Bild und Ästhetik gleich zwei, tendenziell irreduziblen ‚Bedeutungsüberschuß‘ produzierende Faktoren eine Hauptrolle spielen. Vielfach betont wird zudem, daß für die Untersuchung eines (Kunst-)Werkes auf seine spezifischen Qualitäten hin große Datenmengen nur bedingt beitragen können. Welche Konzepte und Theorien diskutiert die Digitale Kunstgeschichte dafür?

 

6. Als final fantasy der Digitalen Kunstgeschichte klang eine möglichst große, idealerweise vollständige Datenerhebung an, mit der dann zumindest bestimmte Probleme endgültig zu lösen seien. Das ist in vieler Hinsicht eine Neuauflage der Idee, eine Karte im Maßstab 1:1 anzufertigen, wie sie etwa Jorge Luis Borges in seiner Kurzgeschichte Von der Strenge der Wissenschaft beschrieben hat. Was dort gilt, scheint auch hier zuzutreffen: Alle Daten führen nicht zu vollständigem Wissen, sondern aufgrund von Überfülle und fehlender Erkenntnisstruktur zu gar keiner Einsicht mehr. Betont werden sollte vielmehr die Symmetrie der Herausforderungen: Während bisherige Kunstgeschichte an zu wenigen Daten scheitern konnte, besteht die entsprechende Gefahr des Scheiterns an zu vielen Daten für die Digitale Kunstgeschichte.

 

Klar ist, daß alle Richtungen der Kunstgeschichte am derzeitigen Wettbewerb um Fördergelder teilnehmen. Klar ist auch, daß eine Position, die die Geisteswissenschaften näher an die Naturwissenschaften heranbringen will und große ‚weiße Flecke‘ der Forschung schon auf statistischem Weg ausweisen zu können glaubt, keine ganz schlechte Chance hat. Deutlich wird freilich auch, wie sehr Wissen, in diesem Fall das digitale Know-How, und Macht zusammengehen. Anders als seinerzeit die Genderforschung tritt Digitale Kunstgeschichte dabei mit einem viel wirkmächtigeren Machtinstrument und in anderem Horizont an. Das Plädoyer von meiner Seite wäre, diese Herausforderungen nicht nur in aller Intensität gemeinsam zu diskutieren, sondern bei allen kontroversen Diskussionen als Disziplin auch gemeinsam aufzutreten. Weder lassen sich die Interessen sinnvoll aufteilen noch dürfte die intellektuelle und institutionelle Bedeutung einer zerteilten Kunstgeschichte steigen.

2 Kommentar(e)

  • Waltraud von Pippich
    12.07.2016 01:23
    Namenloses nennen, Stimmloses bestimmen

    Lieber Herr Pfisterer,



    Sie liefern verschiedene Denkanstösse für die sich digitaler Methoden bedienende Kunstgeschichte und unsere gesamte Disziplin. Ich antworte Ihnen auf Ihre sechs erhobenen Punkte:


    1. Datenerhebung, -ordnung

    Grundlagenforschung unterscheidet sich von der angewandten (oft Auftrags-) Forschung auch dadurch, dass nicht das Erreichen eines bestimmten Ziels, etwa die Erzeugung eines bestimmten Produktes, sondern bereits der eingeschlagene Weg einen Beitrag leisten kann, der auch Ergebnis genannt werden kann. Geht die digitale Kunstgeschichte, wie die angewandte Forschung, vom Erreichen des Ziels, und nicht der Erkenntnisorientierung aus, so ist sie keine erkenntnisorientierte Forschung. Der Datenpragmatismus kann dazu führen, dass sich der Blick der ForscherInnen auf das Machbare verengt.

    Ich führe ein Beispiel für Datenpositivismus an: Ein sich „charting culture“ nennendes Projekt meint, eine sich weltweit entwickelnde historische Kristallisation westlicher Kulturzentren auf der Basis biographischer Angaben (Geburtsjahr, -ort, Sterbejahr, -ort) namentlich bekannter, hauptsächlich aus dem Westen stammender Individuen zeigen zu können und auf Grundlage eines großen, doch bedingt bestückten Datenvolumens ein „network framework“ der weltweiten Kulturgeschichte auszubilden. Versäumt wurde, die für den Anspruch weltweiter Geltung fehlenden Datensätze auf dem Wege einer technologischen Lösung in die resultierenden Schaubilder zu integrieren und den Daten“lack“ durch lauteren Umgang mit dem Datenmaterial jedenfalls versuchsweise visuell auszugleichen.
    Es ist ein Schlag ins Gesicht der namenlos Niedergemetzelten, der namenlosen Gräber in Flüssen, Seen, Wäldern und Ozeanen, der Toten in Massengräbern, der Kriegsleichen, Ermordeten und einsam Dahingeschiedenen. Das Namenlose zu benennen, wird der Ausgleich sein, den digitale Verfahren längst bieten. Ebenso wie nicht nur da gestorben wird, wo Sterben als Datum registriert wurde, wird auch nicht nur da geforscht, wo es einen Niederschlag fand. Die Forschungs-Datensätze können als positives Kondensat, Abklatsch einer unregistrierten, tiefen Kultur des Zögerns, Versuchens und Planens, einer Kultur des Ungelungenen und Halbfertigen, der Kultur des Zweifelns, gelten. Datensätze zu Zitiergewohnheiten gar bilden eher forschungspolitische Strömungen, Moden von Schlagworten, Begriffen und Personal ab, als den Einfluß der Herzen, das Streben nach Wahrheit und das Wehen des Geistes in den Geisteswissenschaften. Die Sterbedaten einer privat bestückten westlichen Hobby-Datenbank bilden ab, an welchen Orten Sterben im Westen vermehrt kategorisch schriftlich erfasst wurde: in den Zentren der Hospitäler in Großstädten, Friedhofsadministrationen, etc. Das namenlose Unregistrierte, das keinen logos fand, kein datum wurde, zu benennen, ist die komplementäre Gegenbewegung zu Studien mit bedingtem Datenmaterial.

    Die Kategoriendiskussion ist im Gange. Auch Sie bemerkten, dass „Zeit“ und „Ort“ wohl nicht die einzigen abzubildenden Kriterien der Auswertungen (der gezeigten Schaubilder) sein konnten. Es ist der Datenpragmatismus, der zur Arbeit mit wenigen, verfügbaren Kriterien führt. Vielversprechende digitale Verfahren, gerade der Bildforschung, setzen jedoch am Bild, nicht am Wort an, und bleiben von den Mechanismen logozentrischer Datenerhebung und -ordnung unberührt.



    2. Bild, Evidenz

    Die Bildwissenschaft hat für die kritische Methodenreflexion visueller Elemente/Verfahren notwendige Instrumente geliefert und wird sie auch in Zukunft leisten. Nicht gesagt werden kann, dass die sich digitaler Methoden bedienende Kunstgeschichte in weiten Strecken von der Evidenz ihrer Schaubilder abhinge. Wohl kann nach außen der Eindruck erweckt werden, dass diese Forschung dominierte. Vielleicht liegt es auch an der Wirkmacht der eingesetzten Bilder. Doch die digitale stilometrische Bildforschung beispielsweise arbeitet, mitnichten von der Evidenz eigener Bilderzeugnisse abhängend, mit Rechenoperationen. Das Fach heißt Mathematik, die Methode Rechnen, das Instrument ist die Zahl.



    3. Resultat

    Die erwähnten Graphiken sind als Übergangsstufen zu werten, sie werden von der Fachgemeinde als Resultate höchstens im Sinne einer Schau des derzeitigen status quo der Verfahren gewertet.
    Niemandem ist daran gelegen, die schwierige Methodendiskussion im Rahmen der äußerst wichtigen und vielversprechenden big data-Forschungen an Externe abzugeben. Die Bildforschung hat eigene Ansätze für den Umgang mit statistischer Datenauswertung erprobt und formuliert.

    Informatische Lösungen können subjektive Komponenten als Teil des Kalkulierten erfassen und bieten für den wissenschaftlichen Zugriff weitreichende Perspektiven. Beispielsweise gelang für die Bildforschung der quantifizierende Zugang zum Farbkosmos gerade unter der Maßgabe einer kalkulierten Subjekt-Objekt Relation, die die Komponente des betrachtenden Subjekts und die Komponente des betrachteten Objekts auf technologischer Ebene zusammenführt. Es gilt keine „subjektiven Faktoren“ nachträglich zu kalkulieren, da sie als Vorgabe Teil der technologischen Lösung waren.



    4. Randgebiete

    Ihre Feststellung: „Digitale Kunstgeschichte sieht sich häufig in der Situation, daß genügend große Datenerhebungen als Grundlage fehlen. Das führt dazu, daß vielfach mit einer sehr spezifischen Gruppe von Datensammlungen (von Wikipedia bis AKL) gearbeitet wird.“

    Nur die Arbeiten im big data-Bereich, einem Teilgebiet der digitalen Forschung, sind auf den Bestand sehr großer Datenvolumen angewiesen. Jenen, die auf makelhafter Datengrundlage basieren, und auch dann nur, wenn sie, unreflektiert mit Absolutheitsanspruch auftretend, die Bedingtheit der Datenbestände unartikuliert lassen, erkennt die allgemeine, kritische Methodenreflexion den ihnen gebührenden Status zu.

    Vielfach aber stellt sich für die digitale Forschung die Frage nicht nach größeren Datenvolumen, sondern präziseren Daten. Viele digital analysierende BildforscherInnen können bereits mit der hochaufgelösten Reproduktion, die nicht, wie in vielen Büchern praktiziert, an den Bildrändern beschnitten ist, ihre Arbeit verrichten. In Zukunft werden, siehe die groß angelegten Initiativen zur 3D-Massendigitalisierung von Kulturgut in Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft, für KulturwissenschaftlerInnen die Forschungsgegenstände insbesondere präziser als ehedem vorliegen. Das heißt, der forschende Blick kann sich auf die Details richten. Stimmen die Details, werden die Datenbanken der Zukunft auch den wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht.

    Frage Pfisterer: „Wie lassen sich Untersuchungen auf dem aktuellen kunsthistorischen Reflexionsstand verfolgen (ein Beispiel: Werden nicht etwa künstlerbiographische Fragestellungen aufgrund digitaler Künstlerlexika favorisiert, wogegen Sammler, Händler usw. deshalb in die Netzwerke kaum einbezogen werden, da entsprechende Daten fehlen und möglicherweise manche Fragen eben auch nur sehr begrenzt ‚datenförmig‘ zu erheben sind)?“

    Eine nicht mögliche informationstechnologische Erfassung, da „möglicherweise manche Fragen eben auch nur sehr begrenzt ,datenförmig´ zu erheben sind“, stellt für manche Netzwerk-Theorie, und die gesamten datenpragmatischen Ansätze, aber nicht für alle digitalen Arbeiten ein Forschungshindernis dar. Im Binärsystem lässt sich Vieles sehr leicht formalisieren. Der Hinweis auf die mangelnde Erfassbarkeit einiger Elemente ist bereits der erste Ausdruck, der für sie gelegt wird, ihr Vorhandensein nennt.

    Frage Pfisterer: „Verstärkt Digitale Kunstgeschichte nicht die Tendenz zu einer Kunst- und Bildgeschichte der Gegenwart der am höchsten digitalisierten Nationen allein schon deshalb, da hier die meisten Daten vorliegen? Werden Antike und Mittelalter, first nations oder auch sehr spezielle, kleine und begrenzte Felder von Kunst und Kultur aufgrund mangelnder Daten zumindest in manchen Bereichen dann zu den neuen Randbereichen des Faches?“

    Ja, das stimmt für manche Bereiche. Es stimmt aber nicht, dass sie „neue“ Randbereiche werden. Ich weiß nicht, ob sie den Status der „Stars“ der Kunstgeschichte (Hochrenaissance, Italien, Raffael, Michelangelo) jemals innehatten. Die mangelnde Erschließung und datentechnologische Erfassung bestimmter Kunst- und Kulturbereiche erzeugt das Desiderat, sie zu erfassen. Ich denke, z.B. archäologische Rekonstruktionsbemühungen finden im Virtuellen einen fairen Partner (Bsp. die Bemühungen um die Rekonstruktion des antiken forum Romanum). Ich kann mir vorstellen, dass viele WissenschaftlerInnen dankbar sind für die existierenden, vorbildlich angelegten digitalen Sammlungen antiker Münzen und Vasenmalerei, wenn sie an die alten Zeiten von früher zurückdenken. Ich denke, die Identifizierung der mangelnden Erschließung nennt für einige Bereiche im selben Zug die Lösung, und ist für andere Bereiche ein wichtiger erster Schritt. Deutliche forscherische Randgebiete für die mit digitalen Methoden arbeitende Kunstgeschichte entstehen jedenfalls durch restriktive urheberrechtliche Bestimmungen.



    5. Bild-Theorie

    Die Eigenheit des Bildes hat Bild-Theorien auch im Gebiet der digitalen Geisteswissenschaften entstehen lassen. Die Kunstgeschichte diskutiert die „Theorie der Koordination“. Gemäß dieser Theorie unterscheidet sich der Logos der Koordination des Bildes kategorial vom Logos der Subordination der Sprache. Die Theorie der Koordination begreift den Logos des Bildes als bestehend aus den Relationen der Bildteile zueinander und der Teile zum Bildganzen.
    Der goldenen Proportion, kunsthistorisch bislang vor allem in der Linien- und Flächenkomposition architektonischer Fassaden als goldener Schnitt erforschbar, konnte beispielsweise durch den Ansatz der koordinierenden Methode in vielen Farbkompositionen von Adolph Menzel zur Artikulation verholfen werden. Die erarbeiteten Algorithmen helfen, den einst von Wentworth Thompson erforschten Zusammenhang zwischen der goldenen Proportion und der Stabilität und Effizienz natürlicher Organismen heuristisch auf Kunstorganismen zu übertragen. Eigenartig und im Blick zu behalten ist zum Beispiel, dass die goldene Relation farbformal in Madonnenbildern der Renaissance ebenso wie in den monumentalen Leinwänden des abstrakten Expressionismus nachweisbar ist.

    Die Kunstgeschichte diskutiert auch das Konzept der „Demokratie der Pixel“. Das heißt, in einigen digitalen Analyseverfahren trägt jedes Bildelement (als Pixel), dem demokratischen Wahlergebnis vergleichbar, gleichwertig zum Endergebnis (Resultat der Analyse) bei, den subordinierenden, hierarchisierenden, einzelne Bildelemente oligarchisch behandelnden, ikonographisch identifizierenden Methoden entgegengesetzt. Die Implikationen des Konzepts für den Zugriff in verschiedenen, komparatistisch ausgerichteten Studien, etwa den vergleichenden Zugriff auf Skizzenmaterial, eruiert sie. Die Konzepte sind 1:1 für die Arbeit mit dreidimensionalem Material übertragbar.

    Für die, dem eigentlichen Bereich der Kunstwissenschaften zugehörende, Zugriffe des Messens, Abwägens, vergleichender Form-, Farb- und Stilbetrachtungen bieten digitale Analyseverfahren Ergänzungen des menschlichen Augensinnes. Eine „Geschichte der Symmetrie“, immer noch ein Desiderat der formalen Schule der Kunstgeschichte, kann nun, mithilfe digitaler Verfahren, endlich geschrieben werden.

    Die Kunstgeschichte hat den überzeugendsten Beitrag zur Frage der Hand Friedrich Sustris versus Tizian des Gemäldes Karls V. aus der Münchener Alten Pinakothek über die farbformalistischen Vergleiche der Werke Sustris´ und Tizians mittels digitaler Datenanalyse geliefert. Auch entwickelt sie, wie nebenbei, Methoden der systematischen Detektion von Bildmanipulationen.

    Die Kunstgeschichte hat in der Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften und der Informatik das Konzept einer „relativen Röte“ in Bildern durch digitale Farbforschung für sich entdeckt. Sie hat den Zusammenhang zwischen den physikalischen und semantischen Eigenschaften der Farben erforscht. In der farbformalen Auswertung großer Teile der politischen Ikonographie hat sie die „Orte des Rots“ im Bild als bildliche Kategorie für die Interpretation fruchtbar gemacht. - Farben, diese vormals lautlosen Elemente, haben durch die Informationstechnologie für die wissenschaftliche Forschung gleichsam eine Stimme gewonnen.

    Nicht zu übersehen ist, dass die Logosferne (und keine Sprachbarrieren kennende, internationale Anlage) des „Bildes“ und die formalistischen Konzepte der digitalen Kunstgeschichte diese für die digitalen Geisteswissenschaften interessant werden lassen. Konsonanz und Dissonanz lassen sich z.B. durch Zahlenverhältnisse repräsentieren, die Vergleiche malerischer und musikalischer Schöpfungen zulassen. Die „Geschichte der Asymmetrie“ würde barocke Gemälde mit architektonischen, städteplanerischen, musikalischen und poetischen Gebilden der Epoche strukturell verbinden. Ein Computerprogramm kann das Fernste miteinander verbinden, formale Prinzipien in Gebilden in Analogie zueinander berechnen. Die digitale Kunstgeschichte ist Teil der digitalen Geisteswissenschaften. Hier ist auf der Ebene gemeinsamer methodologischer Fragen Vieles zu klären.

    Sie weisen darauf hin, dass große Datenbestände die Spezifik des einzelnen Werkes wohl nur bedingt erhellen. Große Datenmengen helfen, die Spezifik des einzelnen Werkes formal zu beschreiben. Beispielsweise kann die Besonderheit des Herrscherportraits Ludwigs XIV. von Hyacinthe Rigaud aus dem Jahr 1701 als eines ikonographischen Urahns wesentlicher Gebiete der nachfolgenden, ganzfigurigen Tradition der offiziellen europäischen Herrschermalerei durch stilometrische Verfahren und gerade im Vergleich mit anderen Gemälden nun auch farbformal artikuliert werden (Pippich: „Rot rechnen“, in: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften 1,2015, Gliederungspunkt „Rotfrequenzanalysen“, Link: http://www.zfdg.de/sb001_016, „Die Farben verteilen sich ebenmäßig entlang der Farbklassen, die Komposition bewirkt die geringe Standardabweichung 3,88 (Mittelwert 6,25). Acht Farbklassen von annähernd gleicher Größe, dazu Skalennachbarn, und das Vorliegen zahlreicher Farbwertkombinationen, die addiert immer wieder die Flächenwerte 50% sowie 75% und 25% approximieren, kennzeichnen die farbformale Eigenart des berühmten monumentalen Gemäldes.“).
    Das Herausstellen farbformaler Muster in Bildern aus den großen Malerateliers, etwa Rigauds oder Davids, lässt das Herausstellen formaler Schemata, die aus vielen Händen eine werden lassen, besonders aufschlussreich sein. Hier würde ebenso die Auswertung größerer Datenbestände, etwa auch eine Vertiefung in das Skizzenmaterial, die Evidenz noch erhöhen und dem komparatistischen Ansatz dienen.
    Die Entdeckung des impliziten Musters der silbernen Relation als farbformaler Konstante, die über den Verlauf der Zeit für die politische Ikonographie persistiert (siehe „Rot rechnen“, Abschnitt 3.2.1), ist für jedes einzelne Bild, mehr aber noch vor dem Hintergrund der Persistenz des Prinzips in zahlreichen Abbildungen bemerkenswert.

    Zu beachten: die bislang in Punkt 5 gegebenen Anmerkungen berühren die formalen Eigenschaften der Bilder und die Methoden der direkten Bildadressierung. Für die hermeneutische Leistung kann der/die Forschende an unterschiedlichen Stellen der formalistischen Analysen einsetzen.



    6. Final fantasy

    Statement Pfisterer: „Während bisherige Kunstgeschichte an zu wenigen Daten scheitern konnte, besteht die entsprechende Gefahr des Scheiterns an zu vielen Daten für die Digitale Kunstgeschichte.“
    Viktor Mayer-Schönberger hat Vermutungen zu mangelhaften Datensätzen vorgelegt, die nahelegen, dass mit zunehmender Größe der Datenvolumen einzelne fehlerhafte Datensätze die Konsistenz des Gesamtvolumens weniger stören. Vielleicht ist ja doch größer besser.

  • Hubertus Kohle
    11.07.2016 11:44
    wichtiger Beitrag

    Wenn die digitale Kunstgeschichte intelligent ist, dann wird sie nicht behaupten, dass sie klassische geisteswissenschaftliche Verfahren aushebelt und durch rein quantitative ersetzt. Das hat übrigens auch Schich in seinem Vortrag nicht getan, auch wenn das bei Pfisterer zumindestens suggeriert wird. Auch Chris Anderson hat für sein „End of Theory“ die entsprechend eindeutigen Kritiken erhalten. (http://www.wired.com/2008/06/pb-theory/). Vielmehr zielt die digitale Kunstgeschchte, und insbesondere diejenige, die sich mit den sogenannten big data beschäftigt, darauf ab, die geisteswissenschaftliche Methodik mit Daten zu versehen, die sie entweder in ihren Ergebnissen bestätigen, was als empirische Unterfütterung immerhin auch schon einmal nicht schlecht wäre; oder aber die auf erklärungsbedürftige Sachverhalte verweisen. Die Erklärung aber wird auch weiterhin eine sein, die die Irreduziblität von Bild und Ästhetik in Anschlag nimmt. (Darf ich hier auf meine "Digitale Bildwissenschaft" verweisen? http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/2185/1/Kohle_Digitale_Bildwissenschaften_2013.pdf, S. 83)

    Pfisterer weist auf den bias hin, der bei big data-Analysen dadurch entsteht, dass man nur ausgewählte Variablen berücksichtigt. Dies hat auch in seinen Augen wohl häufig mit der Tatsache zu tun, dass nur begrenzt und für bestimmte Bereiche Daten zur Verfügung stehen. Will man hier Abhilfe schaffen, müssen diese Daten auch in anderen Feldern erhoben werden, damit sie einbezogen werden können – einmal abgesehen davon, dass natürlich immer das Recht besteht, nur bestimmte Aspekte einzubeziehen, um auch bestimmte historische Sachverhalte zu beleuchten. Über das Erheben von umfangreicheren Daten aus anderen Feldern sollte man sich dann aber auch nicht dadurch lustig machen, dass man dieses als „final phantasy“ der Kunstgeschichte karikiert.

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