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Im Boot auf der Flucht

Flüchtlinge auf Booten sind derzeit häufig in den Schlagzeilen zu finden. Auf wahren Seelenverkäufern sind sie den Widrigkeiten der Natur ausgeliefert, meist unzureichend mit Lebensmittelvorräten versorgt. Sie treiben einer ungewissen Zukunft entgegen. Mit viel Glück erreichen sie aus eigener Kraft die rettende Küste der Insel Lampedusa oder Gibraltars – um dann wieder in ihre Heimat zurück geschickt zu werden, aus der sie geflohen waren. Unzählig Viele scheitern wesentlich früher und sterben bereits unterwegs. Wissend, dass sie in Europa nicht mit offenen Armen empfangen werden, fliehen sie wegen der politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse, die sie aus verschiedenen Gründen nicht (er)tragen können und nicht selbst zu verantworten haben in eine vermeintliche Freiheit.

Ganz anders verhält es sich bei jenen Bootsflüchtlingen, die Richard Doyle im Dezember 1848 für die Zeitschrift „Punch“ zusammengefasst hat. Es sind Herrscher, die sich aus der politischen Verantwortung zu stehlen versuchen oder tatsächlich ins Exil gehen mussten. Die glorreichen Sieben, von denen sich König Louis Philippe und König Friedrich Wilhelm IV. neben Zar Nikolaus I. und Ferdinand I. von Österreich identifizieren lassen, sitzen vereint in einer Barke. Diese ist auf den Namen „Ancient Regime“ getauft. Es scheint wenig vertrauenserweckend.

Die Revolution hatte von Frankreich ausgehend das ganze europäische Festland ergriffen. Einzig England blieb davon verschont und diente dem Hochadel als Zufluchtsort. Louis Philippe, Wilhelm von Preußen und Fürst von Metternich waren im März 1848 in London eingetroffen. Nicht alle Vertreter der restaurativen Politik flohen wirklich, wie die Karikatur suggeriert, doch sahen sie sich bildlich gesprochen in der unsicheren Nussschale des „Ancient Regime“ gemeinsam der unruhigen See der Revolution ausgeliefert. Zumal dann auch noch die ungeheuer große Seeschlange namens „Liberté“ das voll besetzte Boot umzingelt.

Diesem Fluchtgedanken gingen konkrete politische Ereignisse unmittelbar voraus. Louis Philippe hat in der Darstellung seine Krone verloren – er wurde im Zuge der Februar-Revolution bereits abgesetzt und befand sich im englischen Exil. In Frankreich wurde nach zähem Ringen eine Verfassung verabschiedet und damit die Zweite Republik begründet. Am 2. Dezember hatte Kaiser Ferdinand von Österreich sein Amt niedergelegt, nachdem er in seiner Position sichtlich geschwächt war. Sein engster Vertrauter Metternich hatte im März Wien verlassen. Die ihm folgenden Berater Ferdinands trugen wesentlich zu den Unruhen bei statt diese zu beseitigen. So dankte Ferdinand resigniert ab – ein Flüchtling seiner eigenen Politik. Derweil hatte der Deutsche Bund weiterhin gegen die Revolution anzukämpfen. Anstelle einer von der Preußischen Nationalversammlung erstellten Verfassung verabschiedete König Friedrich Wilhelm IV. am 5. Dezember die oktroyierte Verfassung, die dem Monarchen weiterhin die Macht erhielt, indem er die Gewaltenteilung einschränkte und das Militär stärkte. Trotz einer Lockerung der Zensurbestimmungen goss er Öl ins Feuer der Freiheitsbestrebungen. Am 10. Dezember wählte die Nationalversammlung Louis Napoleon Bonaparte zum Präsidenten. Die zweite Republik war damit ins Leben gerufen worden – es war eher eine Totgeburt. Denn es sollte nicht lange dauern und ein Staatsstreich würde ihn 1851 zu Kaiser Napoleon III. erheben.

Es ging also recht turbulent zu in jenem Dezember des Jahres 1848. Die Karikatur des voll besetzten Bootes, das zwischen den Wellen schaukelt, fasst die Situation schlüssig zusammen. Die Freiheitsbewegung, die wegen ihres Ursprungs in Frankreich die phrygische Mütze trägt, beherrschte die Herrscher. Das Schreckgespenst baute sich vor den Flüchtigen auf, ganz gleich, wohin sich die Machthaber auch bewegten, die Freiheitsbewegung stellt sich ihnen in den Weg.

Diese Karikatur gibt es ein zweites Mal. Denn auch in der Karikaturzeitschrift „Le Charivari“ war in der Dezemberausgabe 1848 das Flüchtlingsboot samt Seeschlange erschienen – allerdings spiegelverkehrt und anonymisiert, was für eine Kopie spricht. Wer aber nun wen kopiert hat, möchte ich nicht erörtern. Denn die Plagiatsfrage steht nicht im Raum. Das Motiv war zu bedeutend und aktuell auf die Tagespolitik bezogen, um es nur einmal zu publizieren. Nicht nur die Geschichte wiederholt sich – auch die Bilder begegnen uns doch immer wieder!

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