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Per symbola ad astra

Neues von der Deutungskunst nach oben

Gastkommentar von Wolfgang Kemp

Nachdem seit längerem das Modell „disguised symbolism“ in Misskredit geraten ist, werden im Augenblick Van Eyck und mit ihm die Alten Niederländer zu Ikonosophen einer neuen Observanz erklärt. Das greift fast epidemisch um sich: als  Bastian Eclercy seinen instruktiven Beitrag über die Rezeption und die Kritik der Panofskyschen Methode schrieb, hatte er noch keine der im folgenden angesprochenen Veröffentlichungen berücksichtigt, denn sein Beitrag zum Katalog der Frankfurter und Berliner Ausstellung zum Meister von Flémalle erschien 2008, und genau um diese Zeit ging es unerwartet und wie organisiert auf einmal los. [1] Nicht dass diese Versuche vom Fach wahrgenommen und stark rezipiert wurden – ich bin, glaube ich, der erste, der auf sie aufmerksam macht. Sie erschienen in schneller Folge als Beiträge zu Sammelbänden und teilten so das  Schicksal dieser Literaturgattung, „versendet“ zu werden: „das versendet sich“, sagte man früher im Rundfunk – merkwürdig, dass die Vorsilbe „ver“ schon sehr früh vor „ver-öffentlicht“ stand. Aber als Phänomen ist diese neue Ikonologie des philosophisch und theologisch Möglichen vielleicht ein paar Anmerkungen wert. Auch für den Wissenschaftsbetrieb von heute birgt der Vorgang einige Aufschlüsse.

Um erst einmal den Sound dieser Deutungskunst anzutönen, gebe ich die folgende Stelle wieder, die sich auf die Verkündigung des Genter Altars und zwar auf die Lilie, die der Engel in der Hand hält, bezieht – sie hat über drei unteren eine darüberstehende einzelne geöffnete Blüte: „Die Deutung liegt auf der Hand: Die unteren drei Blüten repräsentieren in ihrem geöffnetem Zustand die drei verwandelten, erblühten  niederen Seelenkräfte, die von einer Seele, einem Träger der Vermögen, so entwickelt und gereinigt worden sind, dass auch er selbst als gereinigt gelten kann, insofern er der Souverän dieser Vermögen ist." [2] Für den Autor „liegt die Deutung auf der Hand“, weil er dem Programm des Altars folgendes „Grundthema“ unterstellt: „die Darstellung eines Weges zur Gottesgeburt in der Seele“. [3] Das geht zwar an der „auf der Hand liegenden“ Evidenz des Altarprogramms weit vorbei, das mit den großen Klammern von Verheißung und Erfüllung, von Gebot und Ausführung und Tun und Ergehen operiert. Aber die Höhe des Ansatzes, seine Kunstferne und Mystiknähe sind unabdingbare Voraussetzung dafür, dass nun die spätmittelalterliche Spiritualität, Nikolaus von Kues, Meister Eckhart u. a. als die Ideatoren der frühen Flamen verpflichtet werden. Vor allem der Kardinal aus Kues ist in den letzten Jahren zum großen Artverwandten des Jan van Eyck befördert worden, zum Stichwortgeber ex post, was besonders auffällt, wenn man liest, wie oft eine Parallele zwischen dem Genter Altar von ca. 1432 und der Schrift „De visione  dei“ von 1453 gezogen wird. Die Verwandtschaft und Nähe der beiden wird so stark herbeizitiert, dass  sie sich schließlich „berühren“ können: ein Detail des Genter Altars „läßt eine weitere Bindung an Nikolaus von Kues erkennbar werden“, ihm kommt „eine besondere Bedeutung zu, sie berührt sich nämlich mit einem Traktat des Nikolaus von Kues“ (Wolfgang Christian Schneider). Auf dem Weg, den im Bild der Anbetung des Lammes die Auserwählten in Richtung Brunnen des Lebens und Lamm ziehen, liegt unter anderen Steinen auch ein Kristall. „Mit den Augen des Cusanus gedacht, kann der naturfacettierte Stein Jan van Eycks im Sinne der Figura paradigmatica in ‚De conjecturis‘ als äußerster Ausdruck des Lichts (lucis) in den tenebrae der Welt gedacht werden …" [4]

Dieses Nobilitierungsbedürfnis steht in einem auffälligen, aber nicht ganz untypischen Gegensatz zum symbolisch verstandenen Material – und das sind z. B. die Zahlen, die nach vielen Warnungen aus der Wissenschaft vor allem noch in der Laien-Exegese eine große Rolle spielen. Einer der neuen  Van Eyck-Deuter konzentriert sich auf die  steinbesetzte Agraffe, die der Gott des Genter Altars vor der Brust trägt: „Um den einzelnen mittigen Diamanten sind 12 kleinere Perlen zu zählen sowie zwölf Edelsteine und große Perlen (8 + 4). Mit ihrer Zuordnung zum Diamenten Christi erinnern diese 24 Kostbarkeiten an die Vierundzwanzig Ältesten", die ihrerseits mit den 12 Stammväter Israels, den 12 Aposteln und den 12 Tore des Himmlischen Jerusalem „korrespondieren“. Das ist beeindruckend, ja „zwangsläufig“ so, und dies nicht nur für den heutigen Leser, sondern auch für den Menschen von damals: „Einem gebildeten und biblisch kundigen zeitgenössischen Betrachter des Bildes musste die Gestalt der Agraffe mit ihrem Besatz von zwei Zwölfergruppen um einen funkelnden Diamanten nahezu zwangsläufig diese Sinnzusammenhänge der Apokalypse heraufrufen, musste das Ganze als Schmuckform geometrisch gegründeter theologischer Spekulation erscheinen." [5]

Dann schaut man sich die Agraffe an und entdeckt etwas ganz Anderes als Zahlen, nämlich Figuren. Der Diamant in der Mitte ist über Eck gestellt, diese Besonderheit müssen die anderen Steine und Perlen sozusagen wieder einholen und mit der äußeren Kreisform vermitteln: vier kleine Perlen füllen die vier Zwickel aus, zwei grüne und zwei blaue Steine nehmen den Impuls der Spitzen auf und bilden ein Kreuz, das seinerseits wieder von vier großen Perlen zum Quadrat ausgeglichen wird, aber der Anstoß der Kreuzesfigur ist damit noch nicht erschöpft, sie setzt sich in vier goldgefassten Rubinen fort, die dann von kleinen Perlen in den sich anschließenden Kreis der Fassung eingeholt werden. Es wird nicht gezählt, sondern gebaut und gefügt; keine höhere Zahlensymbolik ist nötig, sondern Gestalttheorie gefragt, wenn es um die Aufgabe geht, Raute, Kreuz, Quadrat und Kreis zu koordinieren, eine Aufgabe, die schon den Künstlern der Mailänder Elfenbeintafeln des 5. Jahrhunderts gestellt war und danach viele Goldschmiede bewältigt haben, vor allem, wenn es um die Gestaltung von Bucheinbänden ging. Diese Lösungen sind so einsichtig, weil sie überall mit Viererkonstellationen operieren, die zusammenzuzählen völlig sinnlos ist. Und was ist überhaupt mit den 38 Perlen, die das Schmuckstück säumen? Kein Hintersinn?

Nun ist dem gerade zitierten Verf. über seinen zahlensymbolischen Spekulationen (interpreting by numbers) nicht gänzlich entgangen, dass die vielen Perlen und Steine im Format der Figur und nicht der Reihe gegeben sind. Diese Beobachtung nun dient ihm als Sprungbrett, um wieder Höhe zu gewinnen und zu Nikolaus von Kues aufzuschließen, der in der Tat einmal die Frage nach der Quadratur des Kreises angegangen ist.  Das Hochproblematische eines solchen Versuches sehe ich in dem Junktim von Zahlensymbolik und Denkstil des Cusaners. Man kann nur das Eine wollen. Nikolaus von Kues operiert eine Epochenschwelle entfernt von dem spätantiken und mittelalterlichen Aufgebot an Allegorese. Dabei hatte er sehr viel für Zahlen übrig. Sein Dialog  „Idiota de staticis experimentis“ (Der Laie über die Experimente mit der Waage, 1450) beweist dies. Er macht dort  eine wilde Sammlung von Vorschlägen und Experimenten auf, die dazu dienen sollen, Dinge und Phänomene durch schieres Messen der Erkenntnis näher zu bringen. Wie kann man mit einer Waage die Anziehungskraft eines Magneten messen, wie lässt sich am Gewicht von Urin und Blut ein Gesundheitszustand ermitteln - solche Sachen. Es geht um Messen und nicht um Zählen, um Test und nicht um Gelehrsamkeit. Steine haben den Cusaner ebenfalls immer wieder beschäftigt – aber doch ganz anders, als es unsere Ikonosophen wollen. Die Schrift „De Beryllo“ (1458) ist nach dem Beryll, der in diesem Fall wohl ein Bergkristall war, benannt. Aus ihm schleift der Philosoph zur Schärfung der Erkenntnis die „Brille“ – weiter ab von der symbolischen Steinkunde kann man nicht liegen, auch wenn der Beryll „speculum et aenigma“ genannt wird. Als Brille des „geistigen Auges“ soll er helfen, das Größte und das Kleinste zu sehen und „den Ursprung von allem Großen und Kleinen“ und damit die Wahrheit zu erfassen, auch wenn diese die Reichweite der Vernunft überschreitet. Ein instrumentelles, ein diensttuendes Symbol ist der Beryll mithin, eine, wenn man so will, sehr neuzeitliche Konzeption. Es ist auch von Interesse, wie der Cusaner mit seinen Dingsymbolen umgeht: Der Beryll ist bald vergessen und taucht nur noch gelegentlich auf. Viel wichtiger ist z.B.  das Schilfrohr, das der Autor in der Mitte abknickt, und er tut dies nicht, weil der an Moses denkt, sondern weil das Rohr, ohne zu brechen, die verschiedensten Winkel beim Abknicken erzeugen kann. Thema sind die größten und die kleinsten Winkel, bzw. das, was wir bei jedem Winkel über alle anderen Winkel mitdenken. Wir sind sehr bald bei einer theologische Erkenntnislehre more geometrico angelangt: die Mathematik schlägt dann doch die Optik.

Ich habe dies etwas länger ausgeführt, um den unüberbrückbaren Abstand dieses   Symbolgebrauchs vom gelehrten Kompendium der Zeichen aufzuzeigen. Der Cusaner führt ein Symbol nur ein, wenn er mit ihm operieren kann: hands-on-philosophy sozusagen. Nachlesen muss er da nicht. Wer diese Schriften kennt, weiß, dass als Autoritäten nur die antiken Philosophen zugelassen sind, keine Kirchenväter, gerade mal ein  Scholastiker und einmal die Bibel – so der Befund von „De Beryllo“. Im 11. Kapitel von „De docta ignorantia“ erklärt der Cusaner, wo er im Gegensatz zu Anderen den Ansatzpunkt symbolischen Verstehens sucht: „Alle unsere weisen und heiligen Lehrer stimmen darin überein, dass das Sichtbare in Wahrheit Bild des Unsichtbaren sei und daß der Schöpfer auf erkenntnismäßigem Wege von den Geschöpfen wie in einem Spiegel und Gleichnis erkannt und gesehen werden könne." [6] Das ist der Anfang des Kapitels und eine typische Einstiegsrhetorik, die vom Bestehenden ausgeht, um es halb anzunehmen und halb auf die Widerlegung vorzubereiten. Er nennt die „doctores“ „sapientissimi“ und „divinissimi“, was der Übersetzer offenbar zu viel fand und es runterfuhr. Hat der Autor dann selbst noch etwas hinzufügen? Am Schluss und nach Hilfestellung durch antike Autoren sind die christlichen „doctores sapientissimi“ vergessen und es heißt: „Diesen Weg der Alten beschreiten wir mit ihnen zusammen und sagen, daß wir die mathematischen Zeichen wegen ihrer unvergänglichen Gewissheit entsprechend werden gebrauchen können; denn zum Göttlichen steht uns nur der Weg des symbolischen Aufstiegs offen." [7] Die „mathematischen Zeichen“ sind dann aber bitte nicht die Zahlen, sondern die Figuren.

Wie konnte sich diese ganz andere Schule des „symbolischen Aufstiegs“ konstituieren? Wie immer gibt es eine einfache, fast banale Antwort und eine tieferliegende, schwierigere. Einfach kann man es sich machen, wenn man sich die Forschung als vernetztes und subventioniertes System vergegenwärtigt. Die drei Hauptvertreter einer Richtung, die den Maler „mit den Augen des Cusanus“ sehen wollen, sind in eng jumelierten Institutionen tätig: Wolfgang Christian Schneider ist verantwortlich für das wissenschaftliche Programm der „Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte“, die am Geburtsort des Cusaners besteht und jetzt als Aninstitut an die „Cusanus Hochschule in Gründung“ ebenda angeschlossen ist. Er lehrt aber hauptamtlich an der Universität in Hildesheim, wo auch Harald Schwaetzer als Gastprofessor willkommen ist, denn Hildesheim gilt als „ein sehr attraktives Zentrum der Cusanus-Forschung in Deutschland“. Schwaetzer seinerseits fungiert als Vorstand und Professor an dieser neugegründeten Cusanus Hochschule (Motto: „Selbstdenker werden“) und ist gleichzeitig Professor an der „Alanus Akademie für Kunst und Gesellschaft“ in Alfter, einer staatlich anerkannten Kunsthochschule, benannt nach Alanus ab Insulis, einem Theologen der Schule von Chartres, dessen Lexikon der biblischen Allegorien der Cusaner mit Sicherheit nie angerührt hat. Warum eine deutsche Kunsthochschule diesen Namen trägt, ist eine sehr berechtigte Frage, aber ich denke, Alanus Akademie Alfter ergibt einen Dreiklang, der Fragen einfach übertönt. Schwaetzer ist einer unserer fleißigsten Editoren, im Fach Gruppentext ein Virtuose - allein in der Reihe „Philosophie interdisziplinär“ der Kueser Akademie hat er 28 Bände herausgegeben. Sie haben Titel wie „Aisthesis. Die Wahrnehmung des Menschen. Gottessinn, Menschensinn, Kunstsinn“. Der dritte in dem von mir jetzt konstruierten Bunde, Inigo Bocken, steht dem “Titus Brandsma Institute for the study of spirituality“ der Universität von Nijmegen vor, welches eine partnerschaftliche Beziehung zur Kueser Akademie unterhält. Er fungierte als Herausgeber des Bandes „Videre et videri coincidunt: Theorien des Sehens in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts“ (2010), der als Aushängeschild der neuen Gruppierung gelten darf, aber auch einige sehr instruktive Beiträge enthält – so einen von Norbert Schneider. Die neueste Nummer der in Nijmegen herausgegebenen „Studies in Spirituality“ bringt Schneiders Aufsatz „The Sparkling Stones in the Ghent Altarpiece and the Fountain of Life of Jan van Eyck, reflecting Cusanus und Jan van Ruusbroec“, ein Musterbeispiel für eine Forschung, die Van Eyck dem Gedankengut des Cusaners und der Devotio moderna anvermählt, ungeachtet der Unterschiede zwischen den beiden Bezugsgrößen und der massiven Zweifel an Cusanus dem Mystiker sowie an der Affinität des Hofmalers, Impresarios und Diplomaten Jan van Eyck zu Spiritualismus und Mystik.

Bemerkenswert ist, dass an der Universität Nijmegen auch ein „Center for Cusanus Studies“ existiert, genauso wie in der Nähe der „Kueser Akademie“, nur fünfzig Kilometer entfernt, die Universität Trier ein „Institut für Cusanus-Forschung“ unterhält. Die Konkurrenz ist also sehr groß, das Gebiet  überschaubar, die Schriften des Cusaners herausgegeben und übersetzt, alles steht im Internet - von daher ist das Verlangen nach frischem Material begreifbar, und Bilder gehen heute immer. [8] Sie müssen dann nur noch konform gemacht und die Kunstgeschichte als Aninstitut an Philosophie und Theologie angeschlossen werden, damit man  sagen kann: “exactly that was painted by Jan van Eyck” (Schneider) – mit „that“ ist die volle Ladung aus Devotio moderna, Cusanus, Mystik, you name it, angesprochen. Fügen wir jetzt noch die engen Beziehungen dieser Forschergruppe zur Königlichen Flämischen Akademie hinzu, die sozusagen den Genter Altar einbringt, dann haben wir ein schönes Beispiel für Forschung im Euro-Raum vor uns. Und  wir fühlen uns bestens unterhalten und belehrt, wenn wir dieser Szene nähertreten, denn – ehrlich gesagt – wusste man vorher etwas von einer „Alanus Akademie“, einer „Cusanus-Universität“, einem „Brandsma-Institut“ usw.? Nikolaus von Kues war ein begnadeter Pfründen-Sammler: gute 30 werden es gewesen sein, ein Kanonikat hier, eine Propstei dort, alles gewinnbringend im Reich, in Holland und in Italien verteilt. (Nur im Hauptort der Devotio moderna, in Deventer, ist er nicht zur Schule gegangen, das dürfte mittlerweile feststehen.) Die Cusaner unserer Tage gehen ihrem Vorgänger auch auf dieser praktischen Spur nach (imitatio Cusani): Van Eyck ist Van Eyck, so borniert beschränkt kunsthistorisch, da kann man antragsstrategisch heute nur über die Naturwissenschaften reussieren, was die Flamen auch fleißig tun. Aber Van Eyck und Nikolaus von Kues, das ist geisteswissenschaftlich interdisziplinär, eine hochkarätige Jumelage und vor allem in jeder Hinsicht grenzüberschreitend europäisch, was zu erreichen vielen Pfründensammlern sehr schwerfällt. (Eine „Jan van Eyck-Akademie“ ist im Übrigen nicht mehr zu gründen, es gibt sie schon seit 1948 in Maastricht, und sie verfolgt, soweit wir das nach einem Besuch beurteilen können, deutlich andere Ziele als die Universitätsgründer in Kues.)

Die schwierigere Erklärung dieser neuen Forschungsrichtung muss auf ein Syndrom zu sprechen kommen, das seit gut 60 Jahren immer stärker, immer selbstverständlicher wird. Der Cusaner sagt: „Möchten doch alle erkennen, dass in der Vielfalt der Religionen nur eine Religion sich kundgibt.“ Und das ist die geisteswissenschaftliche Religion des Anti-Realismus. Realismus darf nicht sein, lautet das Mantra. Und wenn etwas wie Realismus aussieht, dann ist sofort der Wettbewerb im Gange, das Sichtbare auf ein vorzugsweise höheres Unsichtbares zurückzuführen. Mit „disguised symbolism“ fing das relativ bescheiden an, und als die Ikonologie langsam abbaute, standen nacheinander Semiotik, Konstruktivismus und postmoderne Theorie bereit, das Projekt des Realismus für immer unmöglich zu erklären. Eine korrespondenztheoretische Annahme ist nicht a priori naiv und arbeitet hinter dem Mond, den die Sonne des Konstruktivismus erhellt. Realismus ist eine Anschauungsform, aber das darf nicht heißen, seine Leistung, ja Existenzberechtigung zu ignorieren. Was es heißt, sich auf die „Abenteuer der Immanenz“ (Yimijahu Yovel) einzulassen, kann man an kaum einem anderen Künstler besser studieren als an Jan van Eyck, einem der größten Abenteurer auf diesem Gebiet. Die Geschichte der Realismusphobie ist noch zu schreiben. Ich wüsste auch schon einen Titel, der eine Art von Sequel zu „The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought“ von Martin Jay ankündigen könnte – denigration gleich Anschwärzung, sehr gut. „The Denigration of Realism in Twentieth Century Thought“. Der Obertitel könnte fast bleiben: „Downcast Eyes“ hieß er bei Jay, man müsste sich dabei vorstellen, dass die Augen nun fest aufs Buch gerichtet sind. Was aber unsere neu auf den Trend aufgesprungenen Hypersymbolisten angeht, ich fürchte, der Lieblingsgedanke des Cusaners, der „Ineinsfall der Gegensätze“, wird sich in diesem speziellen Fall nicht verwirklichen lassen.  

 

[1] Bastian Eclercy, Von Mausefallen und Ofenschirmen. Zum Problem des „disguised symbolism“ bei den frühen Niederländern, in: Ausstellungskatalog Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden 2008, S. 139ff.

[2] Harald Schwaetzer, 3, 4, 7: die Konzeption von Seele in der frühniederländischen Malerei, in: Die Macht des Vierten: über eine Ordnung der europäischen Kultur, hrsg. von Reinhard Brandt, Hamburg 2014, S. 151-168, hier S. 160.

[3] Ebda., S. 155.

[4] Wolfgang Christian Schneider, Betrachtung, Aufstieg und Ordnung im Genter Altar, in: Videre et videri coincidunt: Theorien des Sehens in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, hrsg. von Inigo Bocken u.a., Münster 2010, S. 234.

[5] Ebda., S. 223f.

[6] Nikolaus von Kues, De docta ignorantia, in: ders., Theologisch-philosophische Schriften, hrsg. von Leo Gabriel, Wien 1989, Bd. 1, S. 229.

[7] Ebda., S. 231.

[8] Wie umstandslos die Literatur zum Bündnis Cusanus –Van Eyck in der Cusanus-Forschung aufgenommen wird, ersehe man aus Johannes Hoff, The Analogical Turn. Rethinking  Modernity with Nicolas of Cusa, Grand Rapids (MI) 2013, S. 69ff.

3 Kommentar(e)

  • Walter Euler
    22.07.2015 11:07
    Prof. Dr.

    Unser im Beitrag von Prof. Kemp en passant erwähntes "Institut für Cusanus-Forschung an der Universität und der Theologischen Fakultät Trier" ist nicht an der in Rede stehenden kunsthistorischen Diskussion beteiligt.
    Das Institut wurde 1960 von Rudolf Haubst an der Universität Mainz primär für die textkritische Edition des umfangreichen Predigtwerkes von Cusanus gegründet, 1980 wurde es nach Trier transferiert. Dass alle Texte des Nikolaus von Kues im Internet verfügbar sind, ist ein Verdienst unseres Instituts. Einen guten Einblick in die Art der von uns betriebenen Cusanus-Forschung bietet das 2014 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erschienene "Handbuch Nikolaus von Kues: Leben und Werk".

  • Johanna Scheel
    13.07.2015 21:25
    Äpfel und Birnen. Nikolaus von Kues und die Kunst (der Interpretation) - Zustimmung und Erweiterung

    Die Schriften des Nikolaus von Kues bringen die Forschung verschiedener Disziplinen bezüglich ihres Quellenwertes in einen Zwiespalt: Je mehr einerseits sein Werk als weit über den Horizont seiner Epoche erhaben und als zukunftsweisend angesehen wird, desto geringer muss demnach sein Zeugniswert für seine Zeit eingeschätzt werden. Andererseits jedoch bleibt unbestritten, dass Nikolaus so belesen, weit gereist und seine Schriften so gut verbreitet waren, dass er nicht einfach als Sonderfall aus dieser Epoche zu subtrahieren ist.
    Diese Schwierigkeit im Umgang mit den cusanischen Werken spiegelt sich vor allem in den Forschungsdisziplinen wieder, die auf Nikolaus als sekundäre Quelle für ihren eigentlichen Interessensschwerpunkt zurückgreifen, so auch in der Kunstgeschichte, in ihrer Beschäftigung mit altniederländischer Malerei. Ausnahmewerke der Kunst, wie der Genter Altar, werden so – wie im Blogbeitrag von Wolfgang Kemp beschrieben – mit Ausnahmewerken der Theologie oder Philosophie, wie der cusanischen Schrift De Visione Dei, auf einem zunächst abstrakten und theoretischen, hohen Niveau als vergleichbar angesehen.
    Dem „Künstler“ wie dem Theologen wird ein paralleles Interesse an ähnlichen Phänomenen, wie beispielsweise der Theorie des Sehens, bescheinigt. Beide erscheinen somit quasi als Sonderfälle, die sich gleichzeitig aufgrund ihres vermeintlichen Einklangs gegenseitig begründen können und sich von einer eingehenden Berücksichtigung weiterer zeitgenössischer Quellen zu entheben wissen.
    Ein Vergleich von Äpfel und Birnen…

    Methodisch zu unterscheiden bleibt aber das Aufzeigen von parallelem Gedankengut – die Eröffnung eines kultur- und ideengeschichtlichen Horizonts – auf der einen Seite und die direkte Applikation von Motiven oder formalen Phänomenen aus den cusanischen Texten auf das Kunstwerk auf der anderen Seite. Die Versuchung zu letzterem, methodisch fragwürdigem, geht wohl besonders von der Bildhaftigkeit der cusanischen Sprache und Motivik, wie auch der von ihm gebrachten Exempla aus (aber auch andere Autoren werden so herangezogen). Da Nikolaus selbst bspw. im Prolog zur Schrift De Visione Dei tatsächliche Kunstwerke, so unter anderem ein Porträt von Rogier van der Weyden, beim Namen nennt, scheint dies als Legitimation für einen etwas unbekümmerten Umgang mit dem Quellentext und also eine fast direkte Übertragung in der Forschung oftmals auszureichen. Dies ist zugleich Potential wie Krux eines so dichten Textes: dass hier tatsächlich Kunstwerke genannt und eine Vera Icon-Darstellung als Ausgangspunkt des Erkenntnisexperiments genutzt werden, die eine Übertragbarkeit suggerieren, obwohl es sich um eine einmalige, nicht systematische und nicht auf andere Bilder oder Bildrezeption übertragbare Installation und Bildmeditation handelt.

    Denn außerhalb eines solch metaphorischen oder exemplarischen Gebrauchs (den sich die Ikone mit anderen alltäglichen Gegenständen oder Handlungen, wie dem Kugelspiel etc. teilt) äußert sich Nikolaus von Kues nicht explizit zur Kunst oder Kunstwerken. Es ist KEINE Malerei-, Kunst- oder Bildtheorie des Nikolaus von Kues aus seinen Werken herauszulesen: So warnt auch bereits Holger Simon in seinem historisch-systematisch argumentierenden Aufsatz zu Recht seine Kollegen aus der Kunstgeschichte vor diesem Fehlschluss (ehe er dann allerdings selbst mehr oder minder jener beschriebenen Versuchung erliegt und feststellt, dass sich die bildtheoretische Grundlage des frühneuzeitlichen Bildes bei Nikolaus von Kues finden lasse: „Das neuzeitliche Andachtsbild erfährt bei Cusanus seine erkenntnistheoretische Legitimation.“… [Holger Simon: Bildtheoretische Grundlagen des neuzeitlichen Bildes bei Nikolaus von Kues, in: Concilium medii aevi 7, 2004, S. 45–76, hier S. 72]).

    Doch noch einmal zurück zu den Äpfeln und Birnen: Ich denke nicht, dass Künstler oder Auftraggeber von Werken altniederländischer Malerei Nikolaus von Kues gelesen oder gekannt haben. Dass der dort verwendete visuelle Symbol-Kanon teilweise vielschichtig ist und die Assoziationsketten der Betrachter für heutige Kunsthistoriker und Theologen schwer rekonstruierbar bleiben und zur Ikonosophie (wunderbar!) einladen, steht außer Frage. Und sicherlich ist die von Ulrich Henze in seinem Kommentar so betitelte „Symbolismus-Manie […] als Interpretationshilfe“ nicht anzustreben. Es ist aber Vorsicht bei der Beurteilung von Forschungsmeinungen geboten, wenn in einer Publikation sowohl Cusanus als auch die altniederländische Malerei behandelt werden – da dies nicht automatisch auf ebenjene Methode der „Überinterpretation“ hindeuten muss, sondern teils sogar genau die gegenteilige Position dort vertreten wird (vgl. Johanna Scheel, Das altniederländische Stifterbild. Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis, Berlin 2014, bes. S. 249-299, 406-409, Anhang IV). Natürlich ist solch eine Symbolismus-Manie nicht „absolut“ zu setzen. Die Konsequenz aus einer gegenteiligen Absolutheit allerdings, die hinter einer Abkehr von dem Fakt steht, dass – um bei der Äpfel und Birnen-Metapher zu bleiben – Kunstwerke und theologische Traktate als Teil eines kulturellen Horizonts einer Epoche (und ungefähren Region) immer noch „Obst“ bleiben, ist jedoch ebenso wenig erstrebenswert: Eine reine Bildwissenschaft wäre die Folge, die nicht mehr nach dem Kontext fragt.
    In diese Richtung führt ebenfalls die Auffassung, dass die Werke der altniederländischen Malerei, die in Ihrer Technik und Ikonographie das Sehen und die reale sowie symbolische (d.h. theologische/ontologische etc…) Beschaffenheit der dargestellten Dinge „diskutierten“, quasi gemalte Kunsttraktate seien, die man aufschlagen könne, um aus ihnen zeitgenössische Bildtheorien abzulesen; besonders das Motiv des Spiegels ist in dieser Hinsicht ein beliebtes Beispiel. Das Bild an sich wird zum Theorieträger, in dem sich die aus ihm abgelesene Theorie ebenso wieder erfüllt. – Eventuell gestützt durch unvorsichtige Applikationen zeitgenössischer Quellen, wie Werke des Cusanus. Bsp. findet man dies in einem Beitrag zur Affektgeschichte, der sich mit dem affizierenden Potential des „allsehenden“ Blicks aus dem Bild beschäftigt und quasi Zitate aus De Visione Dei als Bildunterschriften einer Bildreihe (von van Eyckschen Vera Icon-Bildern über dessen Selbstporträt bis zu Vermeers Mädchen mit dem Perlohring): „Das Bild, das all seine Betrachter zugleich und gleichermaßen anblickt, ist nach Cusanus: 1. Ein Gleichnis […], 2. Der Blick van der Weydens ist Cusanus zufolge ein erfüllter Augenblick der ›visio Dei‹ […]“ etc. [Philipp Stoellger: Das Bild als unbewegter Beweger? Zur effektiven und affektiven Dimension des Bildes als Performans seiner ikonischen Energie, in: Gottfried Boehm (Hrsg.): Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, Paderborn 2008, S. 183–222, hier 198f.] Hier IST das Bild(motiv) ein Gleichnis, es IST ein erfüllter mystischer Moment – so trifft sich die bildwissenschaftliche Emanzipation des Bildes mit der Applikation theologischen Gedankenguts in einer denkbar ungünstigen Konstellation.

    Fazit: Eine Applikation theologischen und vor allem des so bildhaft-verführerischen cusanischen Gedankenguts auf die Kunst der frühen Niederländer ist methodisch schwierig und fragwürdig. Die Schriften des Nikolaus von Kues sowie anderer Theologen und Denker und die Kunst jener Zeit als Teil eines kulturellen Gefüges zu betrachten, aus dem parallel entwickelte, jedoch nicht direkt bzw. genealogisch voneinander abhängige Ideen, Konzepte und Prinzipien zu erschließen sind, ist ein wichtiges und methodisch richtiges Vorgehen, das uns neue – wenn auch vielleicht weniger ergiebige und vermeintlich eindeutige – Erkenntnisse bescheren kann. In diesem Sinne kann ich dem Beitrag von Wolfgang Kemp nur zustimmen.

  • Ulrich Henze
    24.06.2015 15:40
    Frühe niederländische Tafelmalerei - zu viele Inhalte?

    Vielen Dank für den Beitrag, der die zur Zeit herrschende "Cusanus-Begeisterung" in der Forschung zur frühen niederländischen Malerei sehr schön spiegelt. Es ist immer problematisch, wenn man davon ausgeht, dass sich theologisch-weltanschauliche Konzepte eins zu eins in Kunstwerken wiederfinden lassen. Die von Ihnen beschriebene "Symbolismus-Manie" findet sich nicht nur in Bezug auf Nikolaus von Cues, die Devotio Moderna oder die Mystiker des 14. Jahrhunderts und Jan van Eyck, sie dient auch für zahlreiche Einzelthemen der altniederländischen Malerei wie sog. Stifterbilder oder die Darstellung gemalter ungefasster Steinfiguren als Interpretationshilfe, vor allem in der deutschen Forschung (Johanna Scheel, Das altniederländische Stifterbild. Emotionsstrategien des Sehens und der Selbsterkenntnis, Berlin 2014; Constanze Itzel, Der Stein trügt. Die Imitation von Skulpturen in der altniederländischen Tafelmalerei im Kontext bildtheoretischer Auseinandersetzungen im frühen 15. Jahrhundert, Heidelberg 2005). Die gewonnenen Erkenntnisse sind verdienstvoll und hilfreich, aber wir sollten sie nicht absolut sehen. Die Versuchung einer einseitigen "Überinterpretation" und der Drang, eine bedeutungsschwere und eindeutige "Aussage" im komplexen Gebilde "Kunstwerk" zu finden, sind immer groß. In dem Zusammenhang könnte man die Frage stellen, ob nicht auch der vielbeschworene und als eines der wichtigsten Merkmala der "ars nova" seit Generationen immer wieder beschworene Realismus (bzw. Naturalismus, Verismus, je nach dem, welchen Bedeutungsgehalt man den Begriffen beimisst) bei van Eyck, der "Flémalle-Gruppe" etc. überstrapaziert wird..Aber das ist ein anderes Thema.

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