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Die Zukunft wissenschaftlicher Bücher und Zeitschriften? Harvard und Burlington "go digital"

Gastkommentar Charles Davis, München

Ins Sommerloch fielen mindestens zwei bedeutende und zukunftsträchtige Ereignisse in der langsamen Bewegung der akademischen Welt in Richtung digitales Zeitalter.

 

Als erstes kündigte am 17. Juli 2009 Harvard University Press an, sie werde fast 1000 von ihren Titeln als digitale Bücher über die Internetseite Scribd veröffentlichen und verkaufen (www.scribd.com). Die minimalen Auflagen von wissenschaftlichen Büchern sind längst nicht mehr profitabel und HUPs winzig kleiner Ausflug in das Digitale folgt einer wachsenden Zusammenarbeit großer, kommerzieller Verleger mit Scribd.

 

Was ist Scribd? Scribd ist der „YouTube for documents“ - nach der griffigen Formulierung seines Gründers, des inzwischen 25-jährigen Trip Adler (der klassische Fall von Harvard Student, der im Silicon Valley zum start-up Millionär wird). Heute ist Scribd das größte Social-Publishing Unternehmen der Welt. Es zählt zu den 100 meist besuchten Websites weltweit und bietet Benutzern mehr als 35 Milliarden Wörter an. Bei Scribd findet man Millionen von Publikationen in einem bunten Mix von Bedienungsanleitungen und Kochrezepten bis zu Literatur, Zeitungen und Magazinen, noch dazu gibt es auch wissenschaftliche Literatur und PowerPoint Präsentationen. Jedem wird die Gelegenheit geboten, seine Dokumente bei Scribd kostenlos hochzuladen und zu veröffentlichen. Dort sind sie dann kostenlos zu lesen und nach einer ebenso kostenlosen Registrierung kostenlos zu drucken oder auf den Computer herunterzuladen. So ist Scribd ein Webportal geworden, das Nutzer verwenden können, Dokumente hochzuladen und mit anderen Personen zu teilen. Nach einer Beta-Phase startete am 6. März 2007 der Echtbetrieb der Tauschplattform.

 

Die zweite und noch überraschendere Entwicklung ist die Tatsache, dass das renommierte Burlington Magazine sich seit August 2009 der Welt kostenlos anbietet, und dies auch in den neuesten Nummern. Darüber scheint öffentlich weder in Bekanntmachungen noch in Zeitungsartikeln berichtet worden zu sein. Auf der Burlington Homepage (www.burlington.org.uk → ‚Magazine’ → ‚This month’s Magazine’) sind die Nummern August und September 2009 (einschließlich Werbung) im Scribd ipaper Format zu lesen. Bei Scribd.com selbst können die einzelnen Nummern heruntergeladen und ausgedruckt werden. Das Burlington Magazine beschreibt sich seit Jahren als „The world’s leading art periodical“, und was auch immer man von dieser Selbstbewertung halten mag, Tatsache bleibt, dass die Zeitschrift einen sehr hohen Rang unter den kunsthistorischen Zeitschriften der Welt einnimmt. Was diese neueste Entwicklung bedeutet, ist nicht einfach zu erläutern, denn wie gesagt, ausführlichere Informationen über die Entscheidung des Magazines sich bei Scribd anzubieten, fehlen. Auf jeden Fall beginnt die „moving wall“ von Jstor (also die Regel, die jeweils letzten 3 bis 6 Zeitschriften-Jahrgänge nicht frei über das Internet anzubieten) zu bröckeln. (Bei Jstor, www.jstor.org, ist das Burlington Magazine aus den Jahren 1903 bis 2003 ebenfalls vertreten) Vielleicht noch interessanter ist die Bedeutung des Ereignisses als Zeichen für die Zukunft der wissenschaftlichen Zeitschrift. Für Privatpersonen kostet das Burlington Magazine jährlich UK ₤222/€355/US $575. Bedeutende kunsthistorische Bibliotheken bezahlen etwas mehr. Im Fall von manchen anderen Zeitschriften werden die Bibliotheken faktisch zu finanziellen Trägern der Publikation. Jetzt werden die aktuellsten Ergebnisse im Burlington an die digitalen Leser verschenkt. Dafür wird es gute Gründe geben. Auch Druckmedien müssen den Lesern folgen (bei Scribd über 50 Millionen im Monat). Wer das Burlington Magazine bei jstor nutzen will, muss noch Lizenzgebühren bezahlen. Dennoch scheinen einige ältere Nummern im Internet als Scribd Dokumente ohne Einschränkungen zu lesen (z.B., CXXIX, Juni 1987, auch über www.docjax.com {http://www.docjax.com/document/view.shtml?id=538016&title=Burlington%20CXXIX%20June%201987 }). Die Lage bei ‚docjax’ ist aber unklar.

 

Neuere Nummern von einigen Kunstzeitschriften sind längst kostenlos ins Internet gestellt worden. Zum Beispiel die ‚Annali d’architettura’ des Centro Palladio in Vicenza, 1998-2008 (www.cisapalladio.org), und seit wenigen Jahren ‚Apollo’ (The International Magazine for Collectors; zur Zeit Januar 2006 bis September 2009, mit kostenloser Registrierung).Die ‚Annali’ sind eine rein wissenschaftliche Veröffentlichung, die versucht, online ihren Leserkreis zu erweitern. ‚Apollo’ dagegen verfolgt – in den letzten Jahren zunehmend – auch kommerzielle Zwecke. Diese werden durch die online Präsenz zweifellos gefördert.

 

3 Kommentar(e)

  • Christian M. Geyer
    29.10.2009 19:31

    Ich hatte den Zugriff auf das Burlington Magazine September über Scribd erfolgreich getestet. In den letzten Wochen war dann der Zugriff auf die Website des Magazins in einer ähnlichen Weise gestört, wie auch bei arthistoricum.net geschehen. Inzwischen ist der Zugang wieder möglich, aber wird das Scribd Angebot der aktuellen Nummern nicht mehr angeboten. Sieht so aus, als ob das kostenlose Angebot schneller als gedacht wieder eingestellt worden wäre. Oder habe ich etwas übersehen?

  • Hubertus Kohle
    13.09.2009 07:47

    Es gibt - berechtigte aber naturgemäß empirisch bislang nur punktuell bestätigte - Vermutungen, dass eine Volltext-online-Veröffentlichung den Verkauf des gedruckten Exemplars nicht behindert, sondern sogar eher befördert. Ob sich das ändert (wenn es denn stimmt), wenn die elektronischen Lesegeräte erst einmal so perfekt sind, dass sogar das Burlington Magazine darauf gut zu lesen ist, bleibt abzuwarten. Aber das BM dürfte aus einem speziellen anderen Grund am wenigsten negativ betroffen sein: Es hat immer schon Werbung geschaltet, und ich vermute, dass es von diesen Gebühren mehr profitiert hat als von den Verkaufspreisen für die Zeitschrift selber. Wenn die Sichtbarkeit der Zeitschrift jetzt steigt, weil sie weltweit unbehindert zugreifbar ist, dann dürften auch die Werbeeinnahmen in die Höhe. Die überalle steigende Werbepräsenz ist ja manchmal nicht mehr zu ertragen. Aber vielleicht werden wir nicht darum herum kommen, in Zukunft Werner Oechslins Palladio-Buch nicht nur online zu lesen, sondern verbunden mit einem Kulturreise-Angebot zu den Villen im Veneto!

  • Christian M. Geyer
    12.09.2009 19:36

    Interessante Phänomene - auch ich nutze gerne kostenlose Angebote, vor allem wenn sie so qualitätsvoll wie The Burlington Magazine sind. Nur bin ich beunruhigt, da bei den bisherigen Internet Communities unklar ist, wo den - bei aller Reichweite - das Geld für einen stabilen Business Case herkommen soll, der dauerhaft die Existenz der Publikation sichert. Das heißt also, daß man damit rechnen muss, daß die Blase platzt (nachdem die Gründer Kasse gemacht haben). Dazu würde ich gerne mehr wissen.

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